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Mein Leib und meine Seele

Mein Leib und meine Seele

Ein Dankeschön an den alten, treuen Körper.

Dieser Leib hat meine Seele, mein innerstes Ich, seit ich denken kann, behütend umschlossen und durch mein Erdenleben getragen. Er hat all seine Kraft und Gelenkigkeit aufgebracht, damit ich davonlaufen konnte und keinen Schaden nahm, als mir damals, nach der Schule, drei Mädchen mit einem Stein nachliefen. Er hat tapfer durchgehalten, ohne zu erkranken, wenn ich in meiner Zerstreutheit an kalten Wintertagen viel zu wenig Kleidung trug.

Mein Leib hat mir dabei geholfen, meine Liebe auszudrücken. Durch die Wärme, durch den guten Geruch, den er für mich machte in wichtigen Lebensmomenten, durch seine unwahrscheinlich hohe Sensibilität, durch die er mich zeigen ließ, was ich geben wollte und was der Geliebte brauchte. Stets war er Botschafter meines Wesens, Vermittler, Zuträger.

Dieser gute, starke Leib hat meine Kinder getragen und geboren für mich. Und all die Jahre meines Lebens war er für mich da, war er stark, gesund und ein gutes Zuhause für meinen Geist und meine Seele.

Jetzt ist er müde geworden, mein Leib, wir kommen beide in die Jahre. Er ist faltig, an manchen Stellen grobporig, Hornhaut ist auf seinen Füßen von den Tausenden Kilometern, die er in meinem Dienst zurückgelegt hat.

Der Bauch meines Körpers ist weich, die Haut geht wohl etwas aus dem Leim, und die Last der Jahre zeigt sich an Wellen, Dellen und am Überhang. Ich betrachte meinen guten alten Leib im Spiegel.

Und plötzlich überkommt mich so viel Liebe für diesen Leib, der alles gegeben hat in den vergangenen Jahrzehnten, damit ich erleben konnte, was mein heißes Herz und mein ruheloser Geist verlangten.

Alles hat er mitgemacht, dieser gute Leib, nie versagte er mir seinen Dienst. Wie könnte ich ihn da nicht lieben? Ich liebe das weiche Alter seiner Haut. Ich liebe das Gewicht, das dieser Leib braucht, um zu sein, was er ist.

Ich liebe das Bemühen, immer noch und immer wieder aufrecht zu gehen wie ein junges Mädchen, auch wenn es manchmal nicht mehr so einfach ist. Dieser alte Leib ist in seiner leichten Müdigkeit, die ihm das Älterwerden auferlegt hat, vieltausendmal schöner, als er es im ungelenken Selbstverständnis der Jugend war.

Mein Leben, mein innerstes Ich, hat ihn gefordert, hat ihn geformt. Längst kenne ich ihn durch und durch. Wir sind eins geworden im Laufe des Lebens.

Sich beklagen, weil dieser gute alte Leib nicht mehr glatt und jung ist? Wie verrückt wäre das denn?

Zu dick, zu dünn, zu groß, zu klein, zu unförmig. Irgendetwas ist immer falsch. Der perfekte Körper, so die gesellschaftliche Norm, ist dünn. Wer dick ist, spürt oft gnadenlos, was die anderen denken – und, nackt vor dem Spiegel, was der innere Kritiker sagt. Die Fotografin Michaela Kölle hat sich selbst fotografiert und ihre Gedanken – ähnlich wie Schriftstellerin Monika Krautgartner – dabei niedergeschrieben.

Welt der Frau, die österreichische Frauenzeitschrift, Oktober 2015Die Glosse von Monika Krautgartner ist ursprünglich in der Ausgabe „Welt der Frau“ Oktober 2015 erschienen und ist bist heute einer unserer meistgelesenen Artikel.


Fotos: plainpicture/Cultura, Michaela Kölle

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  • Veröffentlicht: 15.09.2021
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13 thoughts on “Mein Leib und meine Seele”

  1. Katrin sagt:

    Ein wunderbar warmer Text! Danke von Herzen – solche Worte brauchen wir Frauen noch viel mehr, um wieder in unseren wunderbaren weiblichen Körpern anzukommen. Danke, Monika Krautgartner!

  2. urs sagt:

    Ein wunderbarer Text, der mich tief berührt hat – Danke liebe Autorin, dass Sie diese wunderbaren Gedanken mit uns geteilt haben.

  3. Barbara sagt:

    Ein wunderschöner, persönlicher Text, der mich zutiefst berührt. Und er macht mich wahnsinnig stolz darauf, Frau zu sein und immer mehr zu werden! Danke für dieses Geschenk!

  4. Kerstin sagt:

    Oha, das war so was von wunderschön zu lesen. Vielen lieben Dank!!!!!

  5. Cecilia sagt:

    Danke dafür, dass Du mich daran erinnerst, wie wunderbar unserer Körper sind. Ich danke Dir und meinem Körper. Und ich werde nicht mehr nörgeln, wenn dies oder jenes nicht mehr topp ist. Es ist wahr, mein Körper und ich – wir gehören zusammen – bis der Sargdeckel zuklappt.

  6. Sandra sagt:

    Das ist wunderschön… Diese Selbstliebe und Hingabe… Sehr inspirierend… ❤❤

  7. Theresia sagt:

    Eine Liebeserklärung an den alternden Körper, wie schön!

  8. Ingeborg Chirazi sagt:

    Diese Zeilen haben mich berührt. Zumal ich oft sehr unzufrieden mit meinem alten Körper bin. Du hast mir aufgezeigt wie anders man denken kann, denn daraus erwächst Freude Kraft und Glück. Danke!!!

  9. Rosella sagt:

    Welch wundervoller Text. Bin sehr tief berührt. Tränen der Liebe rollen sanft über die Wangen….

  10. Alfred Pfeifer sagt:

    Wunderbares Bekennen zum ureigenen tiefen ICH!!! Hat mich sehr berührt!!!

  11. Was für ein wundervoller, berührender Artikel. Vielen Dank dafür!

  12. Esther sagt:

    Ein wunderbarer Text. Ehrlich, so wie es ist. Wir Frauen sind ja selten zufrieden mit unserem Körper.
    So ist es gut, wenn einem jemand die Augen öffnet.
    Herzlichen Dank dafür.

  13. Ich als Gesundheitspraktikerin für Frauenmassage und Sexualcoach weiß wie schwer sich die Frau damit tut ihren Körper anzunehmen und zu lieben. So viele alte seelische Verletzungen stecken in dem Ablehnen. Den Körper annehmen und lieben lernen ist ein Wachstum und Bewusstsein Prozess. Durch zarte, absichtslose Berührungen lernen Frauen den Körper wieder wahrzunehmen und lernen sich auszudrücken, was ihnen gefällt und was nicht. Und dann, nach einer Zeit, kann die Frau sich wieder spüren und ihren Körper lieben. Herzlichst eure Oya
    http://www.erfuellende-weiblichkeit.de

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