Aktuelle
Ausgabe:
Zeit
07-08/24

Ziemlich beste Freundinnen

Ziemlich beste Freundinnen

Bernadette Hofer-Lingg fiel nach einem Autounfall ins Wachkoma. Plötzlich war sie auf fremde Hilfe angewiesen. Sie wehrte sich, bis Pflegerin Elisabeth Ackerl ihr Vertrauen gewann. Die Geschichte einer außergewöhnlichen Freundschaft.

Die Reportage wurde am 17. November 2020 mit dem Prälat-Ungar-Anerkennungspreis der Caritas Wien in der Kategorie Print ausgezeichnet.

Sophia Lang
„Die Auszeichnung bestärkt mich, weiter intensiv an Themen zu arbeiten, die zu wenig Aufmerksamkeit bekommen.“
Sophia Lang

Wäre Bernadette Hofer-Lingg ­Elisabeth Ackerl nicht begegnet, hätte sie vergessen, wie Erdbeeren schmecken. Sie hätte den selbst gemachten Honig ihres Vaters nicht mehr auf ihrer Zunge schmelzen lassen können. Sie hätte vergessen, wie essen geht, und auch, dass das Leben schmecken kann. Weil sich die Frauen aber kennengelernt haben, bückt sich Ackerl nun zu Hofer-Linggs Rollstuhl hinunter, in jeder Hand einen Joghurtbecher, links mit Erdbeer-, rechts mit Vanillegeschmack, und fragt: „Welchen magst?“ Hofer-Lingg lässt ihre Hand auf den rechten Becher fallen. „Heute gar nicht dein Lieblingsgeschmack?“, fragt Ackerl. Sie holt ein Handtuch, wickelt es Hofer-Lingg um den Hals, lässt sich in einen Stuhl sinken und zieht den Deckel vom Becher. Sie häuft Creme auf einen rotblauen Silikonlöffel und streckt den Arm aus. „Mach ‚Ah‘, Bernadette, den Mund weit auf.“ Hofer-Linggs rechter Arm ist locker, die Hand liegt auf ihrem Oberschenkel, der linke Arm ist abgewinkelt, die Hand zu einer Kralle verformt.

Auch Elisabeth Ackerl hat nicht vergessen. Wie durch Knopfdruck sind sie wieder da, die Bilder von dem Tag, an dem sie Bernadette Hofer-Lingg zum ersten Mal sah. Es ist der 19. Februar 2007, für die 41-jährige Ackerl ist es das achte Jahr als Diplomkrankenpflegerin im Landespflege- und Betreuungszentrum Christkindl (OÖ) und das dritte Jahr auf der Wachkomastation. Sie sieht Sanitäter, die eine Frau auf einer Bahre den Gang entlangtragen, vorbei am Aquarium mit den bunten Fischen, ganz nach hinten, durch die letzte Türe links, Zimmer 401, gelber Boden, apfelgrüne Wände. Sie sieht, wie die Männer die Frau ins Pflegebett heben. „Bernadette Hofer-Lingg, geboren am 24. November 1966, seit einem Jahr im Wachkoma“, wird ihr mitgeteilt. Nach mehreren Krankenhaus- und Pflegeaufenthalten soll die Patientin in Christkindl ankommen, dort wo die Baumstämme vor dem Gebäudeeingang in bunte Tücher gewickelt sind, als könne das den Kummer, der einen im Inneren erwartet, vertreiben.

Bernadette Hofer-Lingg hat zwei Leben. Im ersten wächst sie in Pabneukirchen auf, lernt sprechen, essen und laufen, geht zur Schule, wird Religionslehrerin, heiratet Hubert Hofer und bekommt mit ihm zwei Söhne: Paul und Elias. Dieses Leben endet nach 39 Jahren. Im zweiten fängt sie von vorne an, kommt nach Christkindl, lernt essen, vielleicht auch noch sprechen, laufen aber wohl nicht mehr. Dazwischen liegen Sekunden, ein Knall. Es ist das Jahr 2007, ein Tag nach dem Fest der Heiligen drei Könige. Bernadette Hofer-Lingg will mit dem Auto zum 60 Kilometer entfernten Möbelhaus fahren, auf der Rückbank sitzen ihre Söhne im Kindersitz. Der dreijährige Paul soll mit ins Möbelhaus, Baby Elias bringt Hofer-Lingg zu ihrer Mutter. Sie wird ihn von dort nicht mehr abholen. Ihr Wagen wird auf dem Hinweg die Mittellinie der Fahrbahn überqueren, sie wird das entgegenkommende Auto erst erblicken, als es zu spät ist, und es wird das Letzte sein, was sie von ihrem alten Leben sieht. Das Hirn ihres Sohnes wird durch den Aufprall schwer geschädigt werden, er wird ins Koma fallen, in einen Tiefschlaf, aus dem er nicht mehr erwachen wird. Maschinen werden ihn am Leben halten, und sein Vater wird verzweifelt hoffen, dass der Bub wieder werden wird. Wird er nicht, sagen die Ärzte nur Stunden nach dem Unfall, und der Vater wird die Entscheidung alleine treffen müssen, die Geräte abstellen zu lassen.

„Warum das Auto auf die andere Straßenseite geraten ist, weiß nur Bernadette“, sagt Elisabeth Ackerl. Auch heute noch, 13 Jahre später. Sie könne es ja niemandem erzählen. Bernadette bekomme alles mit, könne sich verbal aber nicht äußern. Ein Arzt hat Ackerl einmal erklärt, dass der Zustand „Wachkoma“ vergleichbar mit der Aufwachphase nach einer Vollnarkose sei. Man höre etwas, verstehe es, könne aber nicht darauf reagieren, weil man zu benebelt sei.

 


Bernadette Hofer-Lingg kommuniziert mit ihrer Pflegerin Elisabeth Ackerl über Körpersprache. Streckt sie etwa ihren Daumen nach oben, bedeutet das „Ja“, zeigt er nach unten, ist es ein „Nein“.

 

KRATZEN WIE EINE KATZE
In wachen Momenten, wenn Hofer-Lingg sich ihres Schicksals bewusst wurde und die Verzweiflung über sie hereinbrach, wurde sie wütend, biss und kratzte, sodass Bekannte Elisabeth Ackerl fragten, ob sie sich eine Katze zugelegt habe. Zu jener Zeit war Ackerl bereits Stationsleiterin. Hofer-Linggs Pflegerinnen gelangten an ihre Grenzen, Ackerl fühlte mit der Patientin. Sie kennt den Schmerz, der einen nach einem Verlust aufzufressen droht. Sie war 19, als ihr Bruder kurz vor seinem 21. Geburtstag bei einem Autounfall ums Leben kam, und vielleicht erklärt das einiges im Hinblick auf ihre Beziehung zu Hofer-Lingg.

Elisabeth Ackerl nahm sich Bernadette Hofer-Linggs an. Sie kaufte Langarmshirts, die sie selbst im Sommer trug, damit Hofer-Lingg ihre Nägel nicht in ihre Haut graben konnte. Sie besorgte sich eine goldene Panzerhalskette, obwohl sie Gold nicht mochte. Daran konnte sich Hofer-Lingg mit der rechten Hand, die nicht spastisch ist, festhalten, wenn Ackerl sie aus dem Bett hochzog. Ackerl kämpfte um ­Hofer-Linggs Vertrauen, war geduldig, selbst dann, als diese Gegenstände auf den Boden schmiss, nur um sie von ihr aufheben zu lassen.

ELEFANTENDOSIS
Am Anfang habe Bernadette noch essen und ein paar Wörter sagen können. Dann bekam sie einen Status epilepticus, einen lang anhaltenden epileptischen Anfall, der ihr Gehirn so schwer schädigte, dass sie nicht einmal ihren eigenen Speichel schlucken konnte. Sie bekam Antiepileptika, eine Dosis, „so hoch wie für einen Elefanten“. Sie hatte Angst vor den Therapien im Krankenhaus. Ackerl begleitete sie an ihren freien Tagen. „Vertrau mir, Bernadette, ich passe auf dich auf“, sagte sie. Hofer-Lingg glaubte ihr, und die Medikation wurde leichter – so wie die Kratzer auf Ackerls Haut, bis sie ganz verblassten.

„Ich merke, wenn es Bernadette schlecht geht“, sagt Ackerl. Sie streicht Hofer-Lingg über die Wange. Da sei dann etwas in ihrem Gesicht, ein Blick, der verzweifelt ist. Wenn sie Schmerzen hat, zieht Hofer-Lingg am Kabel ihrer Sonde, über die sie Wasser und Medikamente bekommt, oder zeigt auf die Stelle, wo es wehtut. Aber manchmal tippt sie auf ihr Herz, dann weiß Ackerl, dass sie „Herzschmerz“ hat. Dann verzieht Hofer-Lingg ihr Gesicht, als würde sie weinen, nur ohne Tränen, seit dem Unfall sind keine mehr gekommen. Einmal, es war das Sommerfest im Pflegeheim, beobachtete Hofer-Lingg die BesucherInnen beim Kuchenessen und riss wieder am Kabel ihrer Sonde. Da wusste Ackerl, dass sie essen wollte, sich aber nicht traute. Zu groß war die Angst vor der Epilepsie, jener unsichtbaren Gestalt, die im Dunkeln lauerte und sie jederzeit, wie damals, als sie sich verschluckte, überfallen und auch töten konnte. Ackerl besorgte Schlagobers, verteilte die Creme auf Hofer-Linggs Lippen. „Dir wird nichts passieren“, wiederholte Ackerl ihr Versprechen. Und weil Bernadette Hofer-Lingg, wie auch ihr Vorname besagt, „stark wie eine Bärin“ ist, öffnete sie ihren Mund, auch bei den nächsten Malen, so lange, bis sie pürierte Speisen essen konnte. „Das hast du geschafft … wie so vieles“, sagt Ackerl. Sie schiebt Hofer-Lingg im Rollstuhl zu ihrem Bett. „Du kannst dich an meiner Lederhose festhalten.“ Mit einem Ruck zieht sie Hofer-Lingg hoch ins Bett, nimmt ihre Beine, hebt sie zur Seite und streckt sie aus. Seit fünf Jahren hat Ackerl den Motorradführerschein und fährt eine BMW GS 500, eine der größten BMW-Maschinen, die es gibt. Seit sie hier arbeite, erfülle sie sich ihre Träume gleich, nicht erst in der Pension, weil die Wege des Herrn unergründlich seien und das Schicksal jeden treffen könne.

SCHNEE IM SOMMER
Fährt Ackerl eine längere Tour, schreibt sie E-Mails an ihre Kolleginnen, die sie Hofer-Lingg vorlesen. Denn einmal, als sie nach Australien flog, und es zeitlich nicht mehr geschafft hatte, sich wie versprochen von Hofer-Lingg zu verabschieden, wurde diese aggressiv, verweigerte alle Therapien und beruhigte sich erst, als Ackerl wiederkam. „Sie hat mich dann tagelang ignoriert, nicht einmal duzen habe ich sie dürfen, bis ich mich entschuldigt habe.“ Seither halte sie ihre Versprechen. „Oder, Bernadette?“, fragt Ackerl. Hofer-Lingg streckt ihren Daumen nach oben.

Wenn Bernadette Hofer-Lingg in ihrem Bett liegt, blickt sie direkt in ihr altes Leben. An der Wand gegenüber hängen Fotos von Baby Elias, aus dem ein junger Mann geworden ist, Fotos von ihren Eltern und von ihrem Mann, der einen blonden Buben, etwa drei Jahre alt, im Arm hält. Es wirkt, als sei ihr altes Leben einfach weitergelaufen, als gebe es dieses kleine Bild von dem Buben, eingerahmt im Wandregal zwischen zwei Holzengeln stehend, nicht. Paul Ruben Hofer, geboren am 20. Juli 2002, gestorben am 7. Jänner 2006, steht darunter. „Der Pauli ist ein so lieber und so ein gescheiter Bub gewesen“, sagt Ackerl. So neugierig, dass er sich im Winter fragte, wie es wohl aussehen würde, wenn Schnee in der Sonne schmilzt. Also formte er Schneebälle, ganz kleine, und legte sie mit seinen Eltern in die Tiefkühltruhe. Im Sommer wollte er sie herausholen und in die Sonne legen. Doch für Pauli kam der Sommer nicht mehr. Nach seinem Tod wird es drei Jahre dauern, bis sein Vater es schafft, die Schneebälle aus der Truhe zu holen. Es wird ein schöner Tag sein, einer, den sich sein Sohn gewünscht hätte, die Sonne wird scheinen und er wird mit den Kugeln zum Friedhof nach Pabneukirchen fahren, Elisabeth Ackerl wird mit Bernadette Hofer-Lingg dort sein, und sie werden in der Kirche eine Abschiedszeremonie feiern, mit Fotos und Musik, und dann werden sie die Bälle auf das Grab ihres Buben legen und beobachten, wie das Eis wieder zu Wasser wird und durch die Erde sickert.

Ich rede mit Bernadette oft über ihren Pauli. Dann erzähle ich ihr, dass er ein Schutzengel ist, wie ihre Großeltern, und sie zu ihm hinauf in den Himmel zu den Sternen schauen kann.

Elisabeth Ackerl

„Solche Erlebnisse verbinden“, sagt Ackerl. Ihr Gesicht ist rot gefleckt. Der Hubert, Bernadettes damaliger Mann, komme sie oft gemeinsam mit Elias besuchen, sagt Ackerl. Bernadettes Eltern kommen jeden Sonntag. Die Hostie von Pauls Abschiedszeremonie nahm Ackerl damals mit, zerkleinerte sie im Mörser und gab sie Hofer-Lingg durch die Sonde. „Weil es ihr wichtig ist“, sagt sie. Ihren Glauben habe Hofer-Lingg nicht verloren, nur ganz am Anfang, da hielt sie sich mit einer Hand an der Kapellentür fest, sodass sie Ackerl mit dem Rollstuhl nicht hineinfahren konnte. Heute besuche sie wieder gerne die Messe. „Außer ich singe, sie hasst schiefen Gesang“, sagt Ackerl. Sie lacht. Denn wenn sie singt, klopft Hofer-Lingg empört mit der Hand auf die Armlehne ihres Rollstuhls oder klappt Ackerl das Liederbuch zu.


Dank Elisabeth Ackerl hat Bernadette Hofer-Lingg das Essen wieder erlernt. Erdbeere ist Hofer-Linggs Lieblingsgeschmack.

 

AB IN DEN URLAUB
Eines Sommers, als Bernadette Hofer-Lingg von ihren FreundInnen Postkarten aus aller Welt zugeschickt bekam und sie selbst gemeinsame ­Barbara-Karlich-Show-Fernsehnachmittage nicht aufheiterten, beschloss Ackerl, mit ihr in Urlaub zu fahren. Weil ein Behindertentransporter zu viel Geld gekostet hätte, musste Hofer-Lingg ihre Angst überwinden und lernen, auf dem Beifahrersitz zu sitzen. „Schaffst du nicht“, sagten Ackerls Kolleginnen. „Schaffen wir“, sagte Ackerl zu Hofer-Lingg. Sie fuhr das Dienstauto aus der Garage, einen alten Renault Kangoo, hob Hofer-Lingg auf den Beifahrersitz und gleich wieder in den Rollstuhl, wenn sich deren Gesicht vor Angst verzerrte. Rein und raus, so lange, bis Hofer-Linggs Atem auch dann ruhig war, als Ackerl ihr den Gurt um die Schultern zog, bis es klickte. Das An- und Abschnallen wurde so lange geübt, bis Ackerl schließlich auch den Zündschlüssel drehen konnte. Dann das Starten und Abstellen, bis Hofer-Lingg – Ackerl wollte den Motor schon wieder abstellen – ihre Hand festhielt. Sie fuhren über den Parkplatz, hinunter in die Garage und wieder hinauf, bis in den Ort, 500 Meter und wieder retour. Ackerl holte einen Atlas, schlug die Österreich-Karte auf, und Hofer-Lingg fuhr mit dem Zeigefinger quer über Oberösterreich bis zum Salzkammergut und stoppte bei Bad Goisern. „Wir waren zu dritt, Bernadette, ihre Mutter und ich, sie war überglücklich“, sagt Ackerl.

Seitdem waren sie viel unterwegs, sie fuhren in einen Zirkus, in die Wachau zur Hochzeit von ­Hofer-Linggs Bruder, zu ihren Eltern nach Pabneukirchen und zu Konzerten von STS und Hans ­Söllner. Einmal, Hofer-Lingg wischte schon wochenlang mit dem Zeigefinger über ihren Mund, fiel es Ackerl wie Schuppen von den Augen: „Möchtest du öfter ein Bussi haben?“, fragte sie Hofer-Lingg. Nicken. „Möchtest du in den Arm genommen werden?“ Nicken. Seitdem drückt Ackerl Hofer-Lingg oft fest an sich, und jeden Tag, kurz vor Dienstschluss, sitzt sie an Hofer-Linggs Bett, bis diese ihre Hand loslässt, und dann zeichnet Ackerl mit dem Daumen auf ihrer Stirn ein Kreuz nach, so wie es Hofer-Linggs Großmutter immer getan hatte, als sie noch lebte.

WAS, WENN SIE STIRBT
„Wenn wir zwei nur das gemacht hätten, was andere für möglich hielten, hätten wir nicht so viel Spaß gehabt“, sagt Ackerl. Sie setzt sich zu Hofer-Lingg an die Bettkante. Ob sie öfter darüber nachdenkt, was wäre, wenn Bernadette stirbt? Ackerls rechter Mundwinkel beginnt zu zucken, ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sie holt tief Luft, bevor sie weiterspricht, ihre Hände sind gefaltet, als würde sie beten. „An dieses Szenario denke ich manchmal.“ Das wäre sehr schlimm, sagt sie. Erst letzte Weihnachten hatte Hofer-Lingg einen so heftigen Anfall, dass Ackerl dachte, das sei nun das Ende. Sie weiß, was in so einem Fall zu tun ist, weiß, dass alles ganz schnell gehen muss. Sie holte die kleine Ampulle mit der Aufschrift „Gewacalm“, saugte die klare Flüssigkeit durch eine Spritze auf, genau 10 Milligramm, öffnete Hofer-Linggs Mund und applizierte das Medikament in die Innenseite der Wange. Hofer-Lingg kam ins Krankenhaus, sie überlebte.

Wenn Hofer-Lingg ins Krankenhaus muss, fährt Ackerl zu ihr, jeden Tag drei Mal, und füttert sie, damit sie das Schlucken nicht wieder verlernt. „Dieses Mal ist das aber nicht möglich gewesen, ihr ist es zu schlecht gegangen. Wir haben es aber wieder erlernt. Es ist nicht immer alles so, wie man es gerne hätte. So ist das Leben“, sagt Ackerl. Sie wird recht behalten. Nur vier Wochen später verschluckt sich Hofer-Lingg an ihrem Speichel, Bakterien reizen ihre Lunge, sie bekommt Antibiotika, wird durch die Sonde ernährt, und Elisabeth Ackerl sitzt am Pflegebett und liest ihr aus dem Buch „Kleiner Esel Benjamin“ vor, auf dessen erster Seite handgeschrieben „Für Bernadette, Weihnachten 1971“ steht.

„Wenn wir zwei nur das gemacht hätten, was andere für möglich hielten, hätten wir nicht so viel Spaß gehabt.“

Elisabeth Ackerl

Die Beziehung zu Hofer-Lingg sei intensiv, „vielleicht zu intensiv“, sagt Ackerl. Aber dafür, das infrage zu stellen, sei es sowieso schon zu spät. „Ich möchte mir ein Leben ohne Bernadette nicht vorstellen.“ Bernadette kenne alle ihre Geheimnisse. Wenn Ackerl einmal traurig ist, hebt Hofer-Lingg ihren Arm und bemüht sich, der Freundin, so gut es geht, sanft über die Wange zu streichen. Durch Bernadette Hofer-Lingg hat Elisabeth Ackerl gelernt, dass das Leben immer weitergeht, auch „wenn es noch so beschissen ist“. Denkt sie ab und zu, dass es für Hofer-Lingg besser wäre, wenn es nicht mehr weitergeht? „Manchmal ja, wenn es ihr so schlecht geht wie zu Weihnachten.“ Aber dann frage sie Hofer-Lingg, ob sie „beim Himmelvater oben sein möchte“, und daraufhin schüttle Hofer-Lingg den Kopf.

SIND WIR FREUNDINNEN?
Vor ein paar Jahren sah sich Ackerl den Film „Ziemlich beste Freunde“ im Kino an, er handelt von einem Mann im Rollstuhl und seinem Pfleger, die Freunde werden. „Da dachte ich, dass das wir sein könnten, Bernadette, wir sind doch Freundinnen, oder?“, fragt Ackerl. Hofer-Linggs braune Augen fixieren Ackerl, plötzlich verzieht sie das Gesicht, aus ihrer Kehle dringt ein dunkles, raues Wimmern, sie schluchzt, ihre Wangen bleiben trocken. Ackerl drückt Hofer-Lingg fest an sich. „Nicht weinen, natürlich sind wir das. Wir sind nicht nur ziemlich beste Freundinnen, sondern beste Freundinnen – und darauf bin ich stolz.“

Über Wachkoma

Jährlich geraten in Österreich laut der Österreichischen Wachkoma­gesellschaft 150 Menschen in den Zustand „Wachkoma“. Alleine in Österreich gibt es 600 bis 800 Betroffene. Das oberösterreichische Landespflege- und Betreuungszentrum Christkindl pflegt zurzeit sechs WachkomapatientInnen. Das Wachkoma, auch apallisches Syndrom genannt, wird durch eine komplexe Schädigung des Gehirns verursacht, etwa nach einer Reanimation, schweren Gehirnblutungen oder Traumen, wie etwa Verkehrsunfällen. Nach dem Koma beginnen die Betroffenen die Augen zu öffnen, zeigen aber keine Reaktionen auf äußere Reize. Die Wahrnehmung der Umwelt und der eigenen Person ist massiv beeinträchtigt oder fehlt völlig. Je länger sich Menschen im Wachkoma befinden, desto geringer ist die Chance auf eine völlige Genesung.

  • Teile mit:
  • Veröffentlicht: 06.09.2019
  • Drucken