Es gibt nicht nur „den einen“ Islam, sondern viele Auslegungen des Korans und viele muslimische Lebensweisen. Auch junge Musliminnen fordern die männlich dominierte Theologie heraus. Im Lichte sich verändernder Rollenbilder emanzipieren sie sich von religiösen Dogmen und Verhaltensgeboten und praktizieren höchst diverse, individuelle Formen von Spiritualität.
„Wir betrachten jede Religion als gleichwertig“
Deniz Gündoğdu (18, rechts im Bild) ist Schulsprecherin in der HAK Wiener Neustadt, ihre Cousine Gizem Gündoğdu (23) studiert Sozialpädagogik. Beide sind Alevitinnen.
Unsere Familie stammt aus der Provinz Sivas in der Türkei und lebt seit 50 Jahren in Österreich. Wir wurden also schon hier geboren. Als Alevitinnen bekennen wir uns zu Allah, also Gott, dem Propheten Mohammed und zu seinem engsten Begleiter, dem heiligen Ali. Im Vergleich zu anderen Auslegungen des Islam erhebt das Alevitentum keinen Absolutheitsanspruch, das heißt, wir sehen unseren Glauben nicht als den einzig richtigen an, sondern betrachten jede Religion als gleichwertig. Wir stimmen allem Göttlichen, der gesamten Schöpfung zu, unterscheiden nicht bezüglich Geschlecht, Sexualität, Sprache, Religion und Hautfarbe. Unsere Familie lebt diesen Grundsatz auch gegenüber den sunnitischen und christlichen Familienmitgliedern. Die Traditionen des Alevitentums erlebten wir schon als Kinder mit, etwa beim Gottesdienst „Cem“, bei dem Frauen und Männer miteinander beten. Bei diesem werden zwölf Dienste, stellvertretend für die zwölf Imame, ausgeübt und von der Predigt des geistlichen Vaters „Dede“ begleitet. Die Zeremonie wird musikalisch mit dem „Saz“ untermalt. Das Sitzen in Kreisform steht für die Gleichstellung aller; keiner sitzt hinter oder vor einem, es gibt keinen Anfang und kein Ende. Als Jugendliche haben wir begonnen, unsere Religion aktiv mit Ritualen auszuleben und die Hintergründe unseres Glaubens zu befragen. Wir haben uns entschlossen, unsere Religion symbolisch mit uns zu tragen. Ich, Deniz, trage ein Armband, auf dem die zwölf Imame abgebildet sind. Gizem trägt ihre Zülfikar-Kette. Sie steht für das Schwert des heiligen Ali.
Foto: Tina Herzl
„Muslimasein ist ein andauernder Veränderungsprozess“
Eşim Karakuyu (25), gebürtige Stuttgarterin, ist Pädagogin, Bloggerin und studiert Soziologie. Ihre Eltern sind Kurden, ihr Großvater kam in den 1970ern als Gastarbeiter nach Deutschland. Seit einem Jahr lebt und arbeitet sie in Österreich.
Ich wuchs in einem traditionellen, vielleicht sogar konservativen Elternhaus auf. Dennoch war es meinen Eltern immer wichtig, bewusst zu leben und zu entscheiden. Daher entwickelte sich auch in mir etwas Reflektierendes. Mit etwa 16 fing ich an, mir Fragen über meinen Glauben zu stellen und mich mit meiner Religion zu beschäftigen. Nach Gesprächen mit unterschiedlichen Personen und der Lektüre vieler Bücher entschied ich mich noch einmal für den Islam. Trotzdem sind Nichtgläubige und Menschen anderer Glaubensrichtungen Teil meines Lebens. Mir ist egal, ob und was jemand glaubt, solange der- oder diejenige zufrieden damit ist. Wichtig sind mir der Dialog, die Emanzipation als Frau und Bildung, weil sie Mittel sind, sich selbst und die Welt zu begreifen. Mein Bild von einer Muslimin entspricht nicht mehr dem Bild, das ich im Elternhaus vermittelt bekam. Ich denke, dass sich dieses Bild noch öfter wandeln und weiterentwickeln wird. Die Konstante, das Wichtigste dabei, ist für mich der Draht zu Gott. Durch diesen entwickeln sich mein Selbstbild und meine Denkweisen. Ich bete fünfmal am Tag, faste im Ramadan, besuche einmal im Monat die Moschee, habe die kleine Pilgerfahrt „Umra“ gemacht und gebe die Armensteuer ab. Außerdem trage ich bewusst ein Kopftuch, obwohl meine Eltern das nicht wollten und Angst hatten, dass ich Rassismus und Gewalt erlebe. Klar bedeutet Kopftuchtragen oft Verteidigung und Rechtfertigung. Aber ich habe meinen eigenen Kopf und trage es, weil ich erhobenen Hauptes zu mir stehe, zu meinen Entscheidungen, meinem Mut, meiner Stärke und Rebellion gegen Diskriminierung. Mein Kopftuch zeigt, dass ich es den Menschen zumute, dass sie Vielfalt lieben lernen können.
Foto: privat
„Mit dem Islam verbinde ich Familiengeschichte“
Muna Duzdar (35) ist Rechtsanwältin, Staatssekretärin und das erste muslimische Mitglied einer österreichischen Bundesregierung. Ihre Eltern sind palästinensische Einwanderer. Sie wuchs mit den Muttersprachen Deutsch und Arabisch auf.
Meine Familie gehört der islamischen Glaubensrichtung der Sunniten an. Meine Mutter las mir aus dem Koran vor, und wir feierten religiöse Feste, wie etwa Ramadan. Es ging darum, nicht nur die Religion, sondern auch die Kultur verstehen zu lernen. In der Schule spielte meine Religion keine Rolle. Ich ließ mich nie in traditionelle weibliche Rollenbilder drängen. Ich praktiziere den Islam nicht, mit der Religion verbinde ich meine Familiengeschichte. Es geht daher mehr um Tradition als um religiöse Praktiken. Mir ist wichtig, dass die Leute sich mit der Rolle von Religionen auseinandersetzen und sie im Kontext von Menschheitsgeschichte und Wissenschaft erfassen. Entscheidend ist, dass gerade junge Musliminnen, egal ob religiös oder nicht, gestärkt werden, sich bilden und einen kritischen Geist entwickeln. Auch muss klar sein: Frauen können freiwillig entscheiden, ein Kopftuch zu tragen. Da darf keinesfalls Druck ausgeübt werden, und es ist keine Pflicht, die Haare zu verbergen, um eine „gute Muslimin“ zu sein. Zudem ist es mir wichtig, dass in der Debatte um Religionen und insbesondere den Islam ein differenzierteres Bild entsteht: Es gibt nicht nur „die eine“ Auslegung im Islam.
Foto: BKA/Hans Hofer
„Ich besuche keine Moscheen und faste nicht“
Soma Ahmad (31) wurde in Irakisch-Kurdistan geboren und floh 1991 mit ihren Eltern nach Österreich. Die Politikwissenschaftlerin arbeitet im Europäischen Parlament und für die „Liga für emanzipatorische Entwicklungszusammenarbeit“.
Meine Religion wurde für mich das erste Mal in der Volksschule zum Thema, als ich aufgrund meines sunnitisch-muslimischen Hintergrunds den Religionsunterricht nicht besuchen durfte. Erst da begriff ich, dass meine religiöse Zugehörigkeit eine Rolle spielen würde, wenn auch von mir nicht beabsichtigt. Als wir im Gymnasium im Geschichtsunterricht die Entstehungsgeschichte des Islam durchgingen, wurde ich mit der Frage konfrontiert, ob wir SunnitInnen oder SchiitInnen seien. Ich konnte diese Frage anfangs nicht beantworten, denn in meiner Familie war das nie ein Thema. Religiöse Praxis spielt bei uns zu Hause keine Rolle. Ein Teil meiner Familie betet, ein anderer nicht. Trotzdem gibt es gegenseitigen Respekt zu unterschiedlichen Auslegungen der Religion, auch bei meinen FreundInnen. Kein einziger übt den Glauben gleich aus. Ich bete nicht fünfmal am Tag, besuche auch keine Moscheen oder halte mich an das Fasten und das Alkoholverbot. Ich feiere aber das Ende des Fastenmonats Ramadan wie ein Familienfest. Um den Koran überhaupt verstehen zu können, musste ich auf verschiedene Interpretationen zurückgreifen. Hier gibt es eine sehr breite Palette. Am besten kann ich mich mit jenen Auslegungen identifizieren, die Religion als Spiritualität betrachten, nicht als Institution und vermeintliches Dogma.
Foto: Tina Herzl
„Gleichberechtigung belebt den Islam“
Seit 30 Jahren setzt sich Seyran Ateş (51), eine deutsche Rechtsanwältin und Feministin türkisch-kurdischer Herkunft, für muslimische Frauen und gegen Unterdrückung ein.
Mit 17 floh Seyran Ateş aus ihrem Elternhaus, in dem sie alle bedienen musste und geschlagen wurde. Später zwang ein Attentat die Juristin zum Rückzug aus der Öffentlichkeit. Jetzt ist sie trotz Morddrohungen retour und bricht Tabus: Im Juni eröffnete sie in der evangelischen Sankt-Johannes-Kirche die erste liberale Moschee Berlins, die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee. In diesem „Open House“ beten Männer und Frauen erstmals gleichberechtigt und unter Anleitung von Imaminnen. Auch Ateş lässt sich zur Vorbeterin ausbilden.
Welche Intention verfolgen Sie als Moscheegründerin und künftige Imamin?
Seyran Ateş: Mir ist ein Anliegen, dass der liberale Islam ein zeitgemäßes Gesicht bekommt. Dass Männer und Frauen nicht getrennt, sondern gemeinsam beten, auch vor Imaminnen, und wir von niemandem Rechenschaft darüber verlangen, wie er oder sie lebt und welche Neigungen er oder sie hat. Wir fördern den friedlichen innerislamischen Dialog zwischen SunnitInnen, SchiitInnen, AlevitInnen und Sufis. Ich kann mir sehr gut vorstellen, speziell für jüngere Musliminnen eine Mentorin zu sein. Schon jetzt weiß ich um meine Vorbildfunktion.
Warum ist die Sichtbarbarkeit junger Musliminnen in der öffentlichen Debatte so wichtig?
Die islamische Welt wird zurzeit in erster Linie mit Terror in Verbindung gebracht, mit hässlichen Bildern von Männern, die töten, und unterdrückten verhüllten Frauen, die keine Alternativen haben. Gegen dieses Bild gehen wir an, denn der Islam wird nicht nur von diesen Leuten vertreten. Mit modernen Frauen, die fortschrittlich denken und trotzdem gläubig sind, wollen wir ein Gegengewicht schaffen und Haltung zeigen.
Welche Meinung vertreten Sie in Sachen Selbstbestimmung und Kopftuch?
Entscheidet eine erwachsene Frau ab 18 Jahren von sich aus, ein Kopftuch zu tragen, okay. Wird aber schon Mädchen im Kindergarten eines aufgesetzt, hat das mit dem Islam, mit Freiheit und Menschenrechten nichts zu tun. Studien zeigen, dass viele nicht mehr der Gelehrsamkeit einzelner Denker folgen wollen und althergebrachten Schablonen von „halal“ und „haram“.
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Foto: Martin U.K. Lengmann
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Erschienen in „Welt der Frau“ 09/17