Ein Lichterbaum ist immer mehr als ein Lichterbaum. Vieles kann man in ihm sehen. Wenn man nur genau hinschaut. Eine Geschichte.
„Weißt du, warum am Weihnachtsbaum so viele Lichter sind“, fragt das kleine Mädchen. Sie bleibt vor dem riesigen Baum stehen und sieht hinauf.
Die Mutter dreht sich um. „Weil es schön aussieht“, antwortet sie ungeduldig. „Und nun komm, wir müssen weiter.“
Das kleine Mädchen schüttelt den Kopf. „Guck mal da oben“, sagt sie und zeigt zur Spitze hinauf. „Siehst du die einzelne Kerze?“
Die Mutter nickt ohne hinzusehen.
Das kleine Mädchen lächelt sie an. „Das ist Papa.“
Es ist ein kalter, feuchter Abend. Und auf dem Weihnachtsmarkt wird gedrängelt. Noch drei Tage bis zum Fest. Überall strahlende Lichter. Und Gelächter, das vom Glühweinstand herüber weht, vorbei an Fettgebackenem, Geröstetem, Gegrilltem. Bis es die Mitte des Marktes erreicht hat, den großen Baum. Vor dem es zerschellt an der Grenze zu einer ganz kleinen Welt, in der es in diesem Moment nur eine Mutter und ihre Tochter gibt.
Die Mutter geht auf das Mädchen zu, hockt sich nieder, nimmt ihre Hand. „Weißt du…“, sagt sie.
Doch das Mädchen lässt sie nicht ausreden. „Und die da“, sagt sie und zeigt auf eine andere Kerze, „ist deine Oma. Weißt du, die, mit der du immer im Wald Himbeeren gesucht hast.“
Die Mutter lächelt ein wenig. Dann dreht sie ihren Kopf und sieht hinauf. Das Kind zeigt auf ein Licht mitten im Baum.
„Und das ist Herr Danner“, sagt das Mädchen. Sie zeigt auf eine etwas wacklige Kerze am linken Rand.
„Woher kennst du Herrn Danner“, fragt die Mutter leise.
Das kleine Mädchen wendet sich ihr zu. Sie lächelt immer noch. „Du hast mir von ihm erzählt. Er war dein … Wie heißt das gleich?“
„Professor. Er war mein Professor.“
„Genau. Und dann ist er mit dem Auto verunglückt. Und das“, sie zeigt erneut den Baum hinauf, auf eine weitere Kerze in der Mitte, „das ist Oma.“
„Aber …“, sagt die Mutter und stockt. Sie holt tief Luft. „Aber“, setzt sie erneut an, „Oma ist doch noch nicht …“
Das kleine Mädchen nickt. Sie ist jetzt ganz ernst. „Nein, Oma ist noch nicht tot. Aber sie gehört ja auch zu uns.“
Die Mutter betrachtet ihre Tochter. Groß ist sie geworden. Bald kommt sie in die Schule. Sie nimmt ihr die Mütze ab und streicht ihr über den Kopf. „Du vermisst Papa sehr, was?“
Das kleine Mädchen nickt. Sie nimmt die Hand ihrer Mutter und legt sie auf ihre Wange. Dann legt sie den Kopf schief, bis er schwer im Handteller ruht. So stehen sie dort einige Zeit, ganz alleine, fernab von allem. Dann hebt die Tochter wieder ihren Kopf, lächelt und zeigt auf den Baum. Ganz außen recht hängen zwei Kerzen. „Das bist du“, sagt sie. „Und das daneben bin ich.“
Die Mutter schaut die Kerzen an, bis sie sie kaum noch erkennt. Endlich wischt sie sich die Tränen aus den Augen. „Aber warum“, fragt sie, „ist Papa so weit weg? Warum ist er ganz oben?“
Das Mädchen schaut hinauf, zur Spitze des Baumes. Sie überlegt einen Moment. „Ich glaube, er hat uns gesucht. Er wusste doch nicht, wo wir waren. Aber jetzt sind wir da. Jetzt kommt er wieder runter. Jetzt kann er ja bei uns sein.“
Die Mutter richtet sich wieder auf. Sie fasst ihre Tochter unter den Armen und hebt sie hoch. Das Mädchen in ihren Armen, wie schon immer, ihr ganzes Leben. Wie schwer sie geworden ist. Vorsichtig legt das Mädchen ihre Wange an die der Mutter. Einen Moment sind beide kalt. Doch zusammen werden sie schnell warm.
„Und deswegen sind so viele Lichter am Weihnachtsbaum?“, fragt die Mutter nach einer Weile leise.
„Genau“, flüstert das Mädchen. „Damit wir uns alle finden.“
Einige Zeit stehen sie dort und schauen die Lichter an. Dann setzt die Mutter ihre Tochter ab. Sie gehen weiter.
„Kann ich einen kleinen Schoko-Weihnachtsmann haben“, fragt die Tochter nach einigen Metern.
Die Mutter beugt sich zu ihr hinab, gibt ihr einen Kuss auf die Wange und lächelt. „Ja, kannst du. Und weißt du was? Ich nehme auch einen.“