„Begegnung mit der EU und Einblicke in die Stadt“ verspricht die Weltanschauen-Reise „Vielfältiges Brüssel“. Ob sich die gesamte Europäische Union tatsächlich an einer Stadt festmachen lässt und welche Überraschungen die belgische Metropole sonst noch bereithält, erläutert Christoph Unterkofler in seinen Reisenotizen.
Abseits der Pfade und unter der Erde
Die vergoldeten Statuen des Grande Place und der Duft der Waffeln in der gesamten Innenstadt sind keinesfalls vergessen. Dass Brüssel aber nicht in seiner Gesamtheit einer Tourismusbroschüre entnommen ist, wird am heutigen Tag schnell bewusst. Der Stadtteil Cureghem, der unser erstes Ziel des Tages ist, ist eines der ärmsten Viertel der gesamten Stadt. „Einstiges Industrieviertel, meist gemieden aufgrund von Krawallen, arm und multikulti“, fasst unser Guide Raf zusammen. EinwanderInnen, die keine Papiere und auch keine Perspektive haben, würden oftmals zunächst in diesem Bezirk unterkommen. Drehscheibe für Gebrauchtwagen sei dieser Teil der Stadt außerdem, von hier aus würden die Autos dann Richtung Afrika verschifft. „Oft ist es eine billige Arbeit für Menschen, die eben erst eingewandert sind – dennoch bietet es Aktivität und Möglichkeit zur Beschäftigung“, sieht es Raf pragmatisch.
Viele der (illegalen) EinwanderInnen stammen aus Afrika, aber auch aus Pakistan, Rumänien, Bulgarien oder Polen. „Sogar einige Belgier finden Sie hier“, lächelt der Guide mit einem Blick auf das angrenzende Marktgelände, auf dem Menschen aller Herren Länder ihre Waren anbieten – vom Waschmittel bis zu Zitrusfrüchten, von der Unterwäsche bis zu Elektronikartikeln. Dass es immer wieder zu Konflikten kommt, lässt Raf nicht unerwähnt, dennoch ist es ihm ein Anliegen, auf das zum Großteil gute Zusammenleben hinzuweisen. „Vielleicht funktioniert es meist gut, weil alle irgendwie noch fremd im Land sind“, vermutet der Brüssel-Guide.
Und während uns nicht nur ein Sprachenwirrwarr, sondern auch Wind und Regen entgegenpeitschen, geht es für uns einen dunklen Gang entlang einen Stock tiefer – unter die Markthalle. Es wirkt nicht unbedingt, als sei dieser Bereich des Geländes für BesucherInnen gedacht, dank unseres Guides stehen uns aber die Türen offen. Und hinter diesen Türen erwartet uns eine Welt, die wir so nicht vermutet hätten: die Welt der Pilze.
Pilzkreislauf
Auf einer Fläche von über 3.000 Quadratmetern werden hier im Untergrund Brüssels Pilze gezüchtet. „Schon in den 1930er-Jahren wurden hier Champignons gezüchtet“, verweist Raf auf die historische Entwicklung. Dies war allerdings zu energieintensiv, deshalb habe sich nun vor einigen Jahren ein Start-up-Unternehmen daran gemacht, vor allem Shiitakepilze zu züchten. „Und es hat funktioniert“, lächelt der Guide, der auf den Kreislauf aufmerksam macht, der zur Pilzzucht benötigt wird. So liefert beispielsweise eine belgische Supermarktkette jenes Biobrot, das als „Material“ für die Pilzzucht verwendet werden kann, und auch die Abfallprodukte der Bierbrauereien finden hier nochmals Verwendung. In Plastiktüten wird dann für optimale Wachstumsverhältnisse gesorgt, ehe die Pilze nach drei Monaten Wachstum bereit für die Ernte sind. „Kalt und nass – das ist Erotik für die Pilze“, meint Raf und betritt einen Raum, aus dem Nebelschwaden emporsteigen und in dem es riecht, als befinde man sich nach einem Herbstregen in einem Wald. Dass die Pilze zum Teil an jene Supermarktkette geliefert werden, die das Brot zur Verfügung stellt, schließe den Kreislauf erklärt Raf.
Das „Manchester Belgiens“
Nächster Stopp unseres heutigen Kreislaufs ist Molenbeek – jener Stadtteil, der wohl auf keiner To-do-Liste von BrüsselbesucherInnen steht und in der Vergangenheit vor allem zu jener ungewollten Berühmtheit gelangte, weil dort Terroranschläge in Europa in gewisser Weise ihren Ursprung hatten. Der ehemalige US-Präsident Donald Trump hatte diesen Stadtteil einst sogar als „Höllenloch“ bezeichnet – in Bezug auf die zahlreichen MuslimInnen, die hier wohnen. Raf ist Realist genug, um uns zu berichten, dass es in diesem Teil Brüssels tatsächlich in der Vergangenheit zahlreiche Probleme mit Kriminalität und Radikalisierung gegeben habe. „Das ist die Wahrheit“, betont Raf.
Aber auch dieses Viertel, das aufgrund seiner Industrievergangenheit als „Manchester Belgiens“ bezeichnet wird, habe seine schönen beziehungsweise guten Seiten. Um der Vereinsamung in einer Großstadt entgegenzuwirken, seien auf einem Areal in der Nähe beispielsweise Grünflächen entstanden, die gemeinsam bewirtschaftet werden können und so die Möglichkeit bieten, zusammenzukommen. Zudem gebe es zahlreiche Initiativen, um den Menschen, die hier zum Teil keine Arbeit finden, eine sinnvolle Beschäftigung zu bieten und ein kulturelles Miteinander zu ermöglichen. Und auf die Erfahrungen – was funktioniert beziehungsweise eben nicht funktioniert – greife man mittlerweile im gesamten Land zurück. Dass beispielsweise SchulabbrecherInnen als ProgrammiererInnen eine neue Chance erhalten, sei ein Erfolgsprojekt, das in Molenbeek entstanden sei.
Zum Teil beeindruckt ob der Initiativen, zum Teil nachdenklich ob der Vorurteile verlassen wir den Stadtteil. Wie mag es den EinwanderInnen gehen, die auf eine zweite Chance im Leben hofften und für die Brüssel ihre Heimat geworden ist? Und wie mögen sich eben diese Menschen fühlen, die in diesem Bezirk leben und in den vergangenen Jahren unter Generalverdacht gestellt wurden? Es sind unangenehme Gedanken, denen man auf herkömmlichen Pfaden leicht entkommen würde. Wer jedoch einen Blick in die Seele der Stadt werfen möchte, der darf sich ohnehin nicht nur an der Oberfläche bewegen. So geht Weltanschauen …