Von La Verna nach Assisi: Begleiten Sie Chefredakteurin Sabine Kronberger beim Pilgern am Franziskusweg. Tag 2.
Buon giorno, buona gente! – Guten Tag, ihr guten Leute!
Mit diesem Gruß soll der Heilige Franziskus, auf dessen Spuren wir von nun an wandern, die Menschen stets freundlich begrüßt haben. Die lieben Leute, mit denen ich heute Morgen in Florenz ankomme, verlassen den Nachtzug zwar genau so durchgerüttelt wie ich, doch sprühen sie vor positiver Energie, als hätte sie Franziskus selbst bereits mit dem Pilgerfeuer angesteckt.
Am Bahnsteig wird gelacht, gemeinsam heißer Kaffee getrunken, im Anschlusszug nach Arrezzo wird weiter gescherzt und einige Gespräche bahnen sich an. Ein Bus nimmt uns mit und bringt uns auf toskanischen Straßen nach Romena ins Casentinotal.
Wir reisen – wie bei „Weltanschauen“ üblich – nachhaltig und hauptsächlich mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Eine sanfte, hügelige Landschaft, die durch die pfeilgeraden, meterhohen Zypressen an Postkartenbilder denken lässt, verhindert, dass ich meinem Drang, Schlaf nachzuholen, folge.
Angekommen in Romena, empfängt uns Gianni – ein großväterlicher Mann mit einem warmen Lächeln und einer pastoralen Ausstrahlung gepaart mit spiritueller Altersweisheit. Obwohl ich nur Wortfetzen aufschnappen kann, wenn er mit Begeisterung von der „Fraternita Romena“ – der Bruderschaft Romena – spricht, klingen seine Erklärungen wie Musik.
Christa Englinger, neben Lydia Neunhäuserer unsere zweite Pilgerbegleiterin, übersetzt in ebenso gefühlvollen Worten und mit gestenreicher italienischer Betonung, was er uns vermittelt. An ihr ist eine Italienerin verloren gegangen.
Die romanische Basilika San Pietro, die heute Vormittag Kern unserer Führung ist, begeistert mich durch Ausstrahlung, Standort und das kirchliche Inventar, das aus alten Werkzeugen, Holz und Schwemmholz gemacht ist. Tief berührend fällt mir ein großer Platz mit blühenden, rosa Bäumchen ins Auge.
Was ich zuerst als wunderbares Fotomotiv erkenne, ist ein Urnenhain. Unter den zarten Blüten hängen die Bilder und Nachrufe der verstorbenen Jugendlichen und Kinder. Es ereilt mich ganz plötzlich der Gedanke an einen jungen Burschen, der heuer an einer Kreuzung in meinem Heimatort sein Leben bei einem Verkehrsunfall lassen musste, als ich ein ähnliches Bild eines Jungen entdecke.
Die mitreisenden Frauen sind ebenso tief beeindruckt von der Kraft des Ortes und der Blühkraft der zarten Bäume, unter denen die Asche den nährenden Boden bereitet. Viele sind sich einig: Hier spenden der Platz, die Bäumchen und die Blüten Trost für weinende, trauernde Eltern.
Das spirituelle Zentrum, das von Laien geführt und durch Spenden erhalten wird, zeigt, wie christlicher Glaube mit modernen Zugängen gepaart Magnet für Menschen sein kann. Könnte sich so eine Institution auch bei uns durchsetzen? Viele Menschen anziehen, das kann dieser Platz hier definitiv.
Schon im Mittelalter war dieses spirituelle Zentrum Raststation für Pilgernde auf dem Weg nach Rom, seit den 1990er Jahren können Menschen hier auch zu Tagen der Stille einchecken, dann wird geschwiegen.
Ein gemeinsames Picknick bringt mich mit zwei Schwestern ins Gespräch. Ihr Humor ist fein und wir schmunzeln und lachen gemeinsam, ehe Pilgerbegleiterin Lydia uns zusammenholt, um die Pilgerreise offiziell einzuläuten. Nachdem sie uns den Auftrag gibt, die Pflanzen, Zweige und Gräser für den Pilgerstab-Buschen zu sammeln, sitzen wir an diesem wunderschönen Fleckchen Erde zusammen, stellen uns erstmals ein wenig vor.
Die Worte „Schön, dass du dabei bist!“ lässt Lydia jeder zukommen und man fühlt sich willkommen unter Fremden. Jede von uns hat eine andere Motivation, hier dabei zu sein. Eine von uns hat in diesem Jahr geliebte Menschen verloren, eine andere tritt den verdienten Ruhestand an und sieht dieses Pilgern als Übergang in einen neuen Lebensabschnitt. Ein herzliches „Oh“ ertönt im Frauenchor, als eine der Teilnehmerinnen erzählt, sie werde heuer Oma. Wieder eine andere sagt, sie hätte einiges mit hierher genommen und habe viel zu denken auf dieser Reise. Auch ein Ehepaar ist dabei.
Für manche Frauen in der Runde ist es – wie für mich – das erste Mal Pilgern. Doch niemand lässt uns spüren, dass wir die „Anfängerinnen“ in der Runde sind, im Gegenteil. Wir dürfen erkennen, dass nicht was wir sind, sondern wer wir sind, hier als wertvoll empfunden wird.
Als es weitergeht in Richtung Felsenkloster La Verna, siegt die Müdigkeit im Bus über mich. Gerade hatte ich noch ein paar Fragen zu „Welt der Frauen“ beantwortet, zack, war ich eingeschlafen. Es war wohl doch eine rumpelige Nacht im Zug. Im Felsenkloster beziehen wir die Zimmer im Gästehaus. Schlichte Zimmer, die perfekt gereinigt sind und alles haben, was man braucht – inklusive Strom für den Laptop, exklusive Internet- oder WLAN-Empfang, das ich zum Senden dieser Zeilen brauchen würde.
Bei strahlendem Sonnenschein machen wir uns danach sofort auf den Weg auf den nahegelegenen Berg Monte Penna. Der Pfad, der durch laubreiche Wege, entlang umgefallener und moosbewachsener Bäume führt, ist magisch. Hier hat sich Franziskus also so wohl gefühlt? Man versteht stumm und bewundernd. Die Aussicht oben lohnt schließlich den Aufstieg und sorgt für ein erstes Glücksgefühl bei den PilgerInnen.
Wieder beim Kloster retour lassen wir das Bauwerk, das große Holzkreuz und den zweifelsfrei als Kraftplatz geltenden Klosterplatz auf uns wirken. Als einige Mitreisende sich in die Zimmer zurückziehen, nutze ich die Zeit und setze mich in die leere Kapelle. Der Feuchtigkeit geschuldet, finde ich hier keine herkömmlichen, sondern einzigartige Keramikfresken als Altäre, die die Geburt und die Kreuzigung Jesu darstellen. In einer Bank krame ich mein Handy hervor und verlese im Flüsterton die Fürbitten für den Frieden in der Ukraine, die mir eine Leserin heute erst per Mail zugesendet hatte. Schon raschelt es vorne in der Nähe des Altars, weil die hier lebenden Mönche nach und nach zum Chorgebet erscheinen. Der kleine Besucherraum füllt sich und schließlich erklingt der Männerchor zum gesungenen Gebet.
Mit einem Abendessen (einer spannenden Komposition aus Artischocken, panierter Wurst mit Käse und einem kalten Stück Käse) lassen wir den Abend ausklingen. Meine Tischkolleginnen und ich tauschen uns überraschend schnell über private Schicksale aus. Auch das ist Pilgern. Gespräche, die erahnen lassen, welchen Rucksack jede von uns mit sich trägt.
Kurz vor der Nachtruhe gibt Lydia noch Tipps, wie wir uns morgen kleiden sollen, wenn der vorhergesagte Regen wirklich ab Mittag ohne Erbarmen über uns kommen würde. Und noch etwas rät sie: „Legt doch mal alle tagsüber das Handy weg.“ Ich fühle mich ertappt und rechtfertige meinen Handygebrauch innerlich sofort mit dem Argument, meine Bilder schließlich für die daheimgebliebenen LeserInnen zur Verfügung stellen zu müssen, als mir ein Satz begegnet, den ich schon beim Eisbaden im Januar gehört hatte: „Alles kann, nichts muss!“
Gute Nacht, liebe Mitlesende. Ich freue mich darauf, euch morgen weiter zu berichten und übermittle dieses Bild der Reisegruppe, das unser Ziel „den Weg für den Frieden zu gehen“ verdeutlichen soll.