Christina Repolust empfiehlt das Buch „Ich bleibe hier“ von Marco Balzano.
Wer Sprache hat, hat Heimat
Trina ist ungestüm, heiter, sie weiß, was sie will. So schildert sich die Ich-Erzählerin in ihren Rückblicken. In ihrer Gegend ist die Idylle noch nicht eingezogen, die Menschen besitzen ein wenig Land, arbeiten viel, reden wenig: Den Geruch nach ihren Viechern tragen sie mit sich. Trina schaut genau, berichtet ebenso exakt und eröffnet damit eine weite Perspektive. Da sitzt ein junges Mädchen, von den Eltern wenig unterstützt, über ihren Büchern und denkt über Erich nach, dabei interessieren sie Männer eigentlich nicht.
Exakt setzt Balzano seine historischen Lesezeichen: den Marsch auf Bozen, die Verwüstung Bozens durch die Faschisten, die tatenlos zusehenden Carabinieri, der Faschismus, der sich aufgrund dieser Tatenlosigkeit immer weiter ausbreitet. Der Autor schildert ein Leben in den Grenztälern im Rhythmus der Jahreszeiten, unaufgeregt, sicher, Heimat gebend.
„Es schien, als käme die Geschichte nicht bis hier herauf. Sie war wie ein Echo, das verhallte. Die Sprache war Deutsch, die Religion christlich, die Arbeit die auf dem Feld und im Stall. Das war alles. Daraus bestand das Leben dieser Bergler, zu denen auch denen auch zu gehörst, da du schließlich hier geboren bist.“
Das hier angeschriebene, immer wieder angesprochene „Du“, das ist Marica, die Tochter, die sich mit Onkel und Tante weg von den Eltern, weg vom Bruder, weg vom Dorf, sein Name ist Graun, und der Armut machte. Diesem heimlichen Aufbruch war vorausgegangen, dass die Faschisten an Macht gewannen, das Gesicht des Duce allgegenwärtig war. So war es wohl Rebellion, die einzige Rebellion, auf diesen Adolf Hitler zu hoffen, deutsche Zeitungen zu lesen, die Kühe zu melken, Tag für Tag.
„So dämmerten wir tatenlos und unterdrückt bis zum Sommer 1939 dahin, als Hitlers Deutsche erschienen, um uns zu verkünden, dass wir, wenn wir wollten, Italien verlassen und ins Reich kommen könnten. Sie nannten es die ‚große Option’.“
So teilte sich die Dorfbevölkerung in die Dableiber und die Optanten, die Dableiber wurden wie Verräter behandelt, während sich Hof um Hof leerte, von Gerhard, dem Säufer des Dorfes genau beobachtet.
Sicher, das Cover erzählt einen weiteren Verrat an den Dableibern, das Fluten des Ortes: Im Reschensee ragt ein Teil des Kirchturmes noch aus dem Stausee, ein beliebtes Postkartenmotiv, würde man denn noch solche schreiben. Ein Sinnbild für Untergang, Verrat und auch im Verborgenen an den Widerstand, den die Dableiber leisteten. Aufrührend sind Trinas Schilderungen, die Fahrten nach Rom, sogar bis hin zum Papst, um die Mächtigen zu bewegen, den Staudamm nicht zu bauen. So viel hatte man schon durchlitten, aufgegeben, verloren, jetzt nicht auch noch den Hof. Handwerker und Bauern, Frauen, die schwer arbeiten mussten, die Hunger litten und doch alles zusammenzuhalten versuchen. Das Dorf wird zerstört, Trina bleibt.
„Ich sehe die Kanus, die das Wasser durchqueren, die Boote, die den Kirchturm streifen, die Badegäste, die in der Sonne liegen. Ich betrachte sie und versuche zu begreifen. Niemand kann verstehen, was sich hinter den Dingen verbirgt.“
Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Roman nicht lesen
Resilienz, Persönlichkeiten, Historie, Politik, Faschismus, Gebrochenwerden durch Verluste, Hoffnungen, Alltagshandlungen, die Stärke geben, Lebensgeschichte der jungen, fröhlichen Trina, die auf Konventionen pfeift.
Der Autor Marco Balzano
1978 in Mailand geboren, zählt zu den erfolgreichsten Autoren Italiens. Er schreibt Gedichte, Essays, Erzählungen und Romane, daneben arbeitet er als Lehrer für Literatur an einem Gymnasium in Mailand.
Sein neuestes Buch „Wenn ich wiederkomme“ rezensiert Christina Repolust hier!
Marco Balzano:
Ich bleibe hier.
Roman.
Aus dem Italienischen von Maja Pflug.
Diogenes Verlag 2020.
288 Seiten.
Christina Repolust
Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at
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