Oft hört man die Forderung nach mehr Betreuungsplätzen für die ganz Kleinen. Aber wie läuft es im Alltag wirklich ab, wenn sich das Kleinkind früh von den Eltern trennen muss? Überlegungen zu einem guten Ankommen in der Krippe.
Als Regine Bogensberger, 41, ihren Sohn Samuel in die Krippe gab, wusste sie noch nicht, was ihnen beiden bevorstand. Die damals alleinerziehende Journalistin, die auch regelmäßig für „Welt der Frau“ schreibt, hatte ein einmaliges Jobangebot bekommen.
Einziger Haken: Es blieben nur knappe drei Wochen Zeit, um den damals zweijährigen Sohn, der bis dahin keinerlei Fremdbetreuung gewohnt war, an ein Leben von 9.00 bis 17.00 Uhr in der Gruppe zu gewöhnen. „Das war zu kurz“, resümiert Bogensberger im Rückblick. Samuel weinte noch ein halbes Jahr lang jeden Tag in der Früh, oft auch hysterisch, klammerte sich an seine Mutter und verbrachte auch die Stunden in der Gruppe oft weinend.
Zu wenig Kinderbetreuungsplätze in Österreich
Samuels Krippenstart fiel in eine Zeit, als die Forderung nach mehr Krippenplätzen in Österreich zum ersten Mal politisch und medial Wellen schlug – Belgien und Frankreich wurden stets als Paradebeispiele für flächendeckende Krippenversorgung präsentiert.
Auch Bogensberger begann sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. „Ich habe mich dabei immer gefragt, warum es etwa in Frankreich mit noch jüngeren Kindern angeblich so gut läuft und bei uns nicht“, erzählt sie. „Die ganze Diskussion war dermaßen ,pro Krippe‘ eingestellt, dass sich niemand getraut hätte, davon zu sprechen, wie schwierig das Ganze für Eltern und Kind auch sein kann.“
Sensible Zeit
Regine Bogensberger steht nicht alleine da. Viele Frauen können und wollen häufig nicht mehr eine dreijährige Arbeitspause einlegen. Krippen sind somit ein wesentlicher Faktor für das reibungslose Funktionieren der Arbeitswelt geworden. „Ich glaube, da gibt es kein Zurück mehr“, formuliert es der bekannte dänische Familientherapeut Jesper Juul und schreibt dazu in seinem Manifest „Wem gehören unsere Kinder?“: „Kinderkrippen wurden geschaffen, um die Bedürfnisse von Familien zu erfüllen, in denen beide Elternteile arbeiten wollen oder müssen, und sie dienen zugleich dem wachsenden Bedarf der Gesellschaft und der Wirtschaft an Erwerbstätigen. Sie wurden nicht eingerichtet, um die Bedürfnisse der Kinder zu erfüllen.“
Wer meint, Juul würde sich damit auf die Seite derer schlagen, die Krippen verdammen und Kinder bis zum Alter von drei Jahren zu Hause wissen wollen, liegt dennoch gänzlich falsch. Im Gegenteil, Juul weigert sich geradezu, einen ideologischen Standpunkt einzunehmen, jede Familie solle die für sie individuell passende Lösung finden. „Ich will keine Munition liefern, die dann von den einen Eltern gegen die anderen eingesetzt wird“, schreibt er.
Auch Daniela Pichler-Bogner, Obfrau der österreichischen Pikler-Hengstenberg-Gesellschaft meint, dass es wenig Sinn mache, sich an der Frage aufzureiben, ob es denn besser sei, Kinder zu Hause zu lassen oder in Fremdbetreuung zu geben. „Wir müssen die Frage der Qualifizierung von Ausbildungen und Betreuungsangeboten ins Zentrum der Diskussion rücken“, sagt die Dozentin. „Frauen wollen oder müssen bald wieder ins Berufsleben zurück. Sie wollen aber auch die Sicherheit haben, dass es ihren Kindern in der Zeit ihrer Abwesenheit wirklich gut geht“, erklärt Pichler-Bogner.
„Frauen wollen oder müssen bald wieder ins Berufsleben zurück. Sie wollen aber auch die Sicherheit haben, dass es ihren Kindern in der Zeit ihrer Abwesenheit wirklich gut geht“
Ab wann ist die Kinderkrippe sinnvoll?
Seit drei Jahren arbeitet sie deshalb gemeinsam mit deutschen und ungarischen Kolleginnen in einer Arbeitsgemeinschaft an einem Konzept und Qualitätskriterien für Kinderkrippen, aufbauend auf den Erkenntnissen der ungarischen Ärztin und Kleinkindpädagogin Emmi Pikler.
Immer mehr Mütter und Väter würden heute erkennen, dass es sich in der Lebensphase von null bis drei Jahren um eine äußerst sensible Zeit als Basis für die Entwicklung einer gesunden Persönlichkeit handle. Daher suchen sie bewusst nach qualitativ angemessenen Betreuungsangeboten. Dies zu erfüllen sei eine große Aufgabe und gesellschaftspolitische Verantwortung.
Lieber öfter, dafür kürzer
Lin Burian, Gründerin und Geschäftsführerin des Wiener Institutes für Bindungstherapie, sieht täglich die verschiedensten Kinder in ihrer Praxis, die alle eines gemein haben: Der Einstieg in die Krippe hat nicht oder nur schlecht funktioniert. Die Kinder reagieren entweder extrem ängstlich, bleiben über lange Zeit weinerlich oder ziehen sich komplett zurück. „Leider gibt es kein 08/15-Rezept für den richtigen Zeitpunkt des Einstiegs in die Krippe“, sagt Burian.
Dennoch fügt sie hinzu: „Ich würde sehr davon abraten, Säuglinge längerfristig von der Mutter zu trennen, und halte es generell für günstiger, Kinder erst ab circa 16 Lebensmonaten in Frühbetreuung zu geben.“ Sie ist nicht die Einzige, die so denkt.
ExpertInnen verschiedenster Fachrichtungen sprechen von eineinhalb Jahren als einem ersten günstigen Zeitpunkt, um Kinder in die Krippe zu geben. Aus der Sicht der Psychoanalyse müssen jüngere Kinder erst ein Ichbewusstsein bilden, um für eine Tagesbetreuung reif zu sein. Erst mit circa drei Jahren hat demnach ein Kind die Fähigkeit erlangt, Schwierigkeiten innerpsychisch oder im Spiel mit anderen zu regulieren.
„Kinder unter drei sind noch auf Koregulation ihrer Gefühle durch eine Bindungsperson angewiesen“, sagt Burian und ergänzt: „Ein Kind kann das innere Bild der Mutter oder einer anderen primären Bindungsperson zu dem Zeitpunkt im Regelfall nur für wenige Stunden aufrechterhalten, danach beginnt dieses zu bröckeln, die Kinder werden unruhig und wirken verunsichert.“
Sie rät deshalb, kleine Kinder eher öfter, dafür jedoch für kürzere Zeiten in Fremdbetreuung zu geben. Laut der „NICHD Study of Early Child Care and Youth Development“ stellt jegliche Betreuung über ein Ausmaß von 20 Stunden pro Woche für Kinder unter drei Jahren ein Entwicklungsrisiko dar.
Kinder brauchen Sicherheit
Ein wesentlicher Faktor für eine harmonische Krippenzeit ist eine Übergangsphase von der Familie in die Gruppe, zumeist als Eingewöhnung bezeichnet. „Die gehetzte Eingewöhnung hat Samuels gesamte spätere Krippenzeit geprägt“, ist auch Regine Bogensberger überzeugt.
Als junge Mutter sei sie jedoch schlichtweg zu wenig informiert gewesen über die Wichtigkeit dieses Prozesses, und sie habe auch keine Möglichkeit gehabt, sich mehr Zeit zu nehmen.
Oft wollte sie den Job hinschmeißen, wenn sie weinend von der Krippe zur Arbeit fuhr, dann überwogen wieder die Gedanken: „Es wird schon irgendwie gehen. Es wird besser werden, und es ist wichtig für uns beide, dass ich eine gute Arbeit habe.“ – „Die Übergangszeit hat so große Bedeutung, weil das Kind erst lernen muss, sich von seiner Mutter zu trennen.
Diese Trennung ist in jedem Fall eine Schwierigkeit“, sagt Anna Tardos, die Tochter Emmi Piklers und ehemalige Direktorin des Pikler-Institutes Lóczy in Budapest. Können Mutter und Kind ihre Gefühle und Wünsche in Mimik und Gestik ganz selbstverständlich voneinander ablesen, muss dies bei einer anderen Bezugsperson erst erlernt werden.
„Ein Kind braucht vor allem die Sicherheit: Hier werde ich verstanden. Ansonsten fühlt es sich wie in einem fremden Land, dessen Sprache es nicht kennt “, sagt Tardos. Im Rahmen der Eingewöhnung gehe es deshalb nicht um eine Erleichterung der Trennung von der Mutter, sondern im Wesentlichen um den Aufbau einer neuen sicheren Bindung.
Behutsame Gewöhnung
Regine Bogensberger hat auch das erlebt. Bei ihrer Tochter Sarah konnte sie sich mehr Zeit für die Eingewöhnung lassen, da sie nun in einer Partnerschaft lebte und sich beruflich selbstständig machte.
Zuerst ebenso mit vielen Tränen, dann jedoch Schritt für Schritt begann sich Sarah mit rund 20 Monaten an ihre Betreuerin Luise (Name von der Redaktion geändert) zu binden, ihre Nähe zu suchen, sich von ihr auf den Arm nehmen zu lassen. Luise nahm sich ganz bewusst Zeit für die kleine Sarah, entdeckte deren Liebe zur Musik und zum Tanz und konnte so eine gute Bindung zu ihr herstellen.
Tränen – nur ein natürlicher Abschiedsschmerz?
„Im Gegensatz zu Samuel ist Sarah immer viel lieber in die Krippe gegangen“, erzählt Bogensberger im Rückblick, auch wenn es zuweilen Tränen beim Abschied gegeben habe. „Weinen beim Abschiednehmen heißt nicht, dass sich das Kind in der Krippe nicht wohlfühlt“, erklärt Lin Burian. Im Gegenteil, Kinder, die ihren natürlichen Abschiedsschmerz zeigen, seien in den meisten Fällen gesunde Kinder.
Man müsse jedoch unterscheiden zwischen dem ganz natürlichen Abschiedsschmerz und dem existenziellen, lang anhaltenden Weinen jener Kinder, die sich weder gut von der familiären Bezugsperson trennen noch Sicherheit bei einer Pädagogin oder der Einrichtung selbst finden können. Selbst bei Kindern, die schnell andocken oder sich den Raum erobern, kann man nicht immer von einem inneren Wohlbehagen ausgehen.
„Es ist ein Missverständnis, zu glauben, dass Kinder, die in der Eingewöhnungszeit recht schnell von Mutter oder Vater weglaufen, bereits gut angekommen sind“, sagt Burian.
Besser ohne Schuldgefühl
Sarah liebte es, in der Krippe Lieder zu singen und dazu zu tanzen. Die zu „Backe, backe Kuchen, der Bäcker hat gerufen …“ einstudierten Handbewegungen machte sie bald auch zu Hause voller Freude nach: Zutaten vermischen, Teig kneten und in den Ofen schieben.
Beginnen Kinder sich intensiv für ihre neue Umgebung zu interessieren, greifen Spielzeug auf, beschäftigen sich konzentriert und neugierig im Raum, beobachten Gleichaltrige, beteiligen sich aktiv an der Jause oder Ähnlichem, kann häufig davon ausgegangen werden, dass die Lösung aus der früheren Bindung gelungen ist.
Regine Bogensberger sagt rückblickend, dass sie vieles bereits mit Samuel anders gemacht hätte, wenn sie von außen mehr Unterstützung und flexiblere und kürzere Arbeitszeiten gehabt hätte.
Doch auch als es schwer war, habe sie niemals den Mut verloren: „Ich habe einfach versucht, die gemeinsamen Zeiten mit Samuel am Abend und am Wochenende besonders schön zu gestalten, um das auszugleichen, was er schaffen musste.“
„Kinder sind sehr belastbar“
Auch Lin Burian plädiert für Entspannung, selbst wenn nicht alle ungünstigen Faktoren ausgeschaltet werden können. „Kinder sind sehr belastbar“, sagt die Bindungspädagogin. Auch wenn nicht die ideale Gruppensituation gefunden werden kann oder das Kind mehr Stunden als empfohlen in der Fremdbetreuung bleibt, muss dies nicht automatisch Schaden anrichten. In diesem Fall spiele die innere Haltung der Mutter beziehungsweise der Eltern eine besondere Rolle.
„Es ist besonders wichtig, sich auch in einer suboptimalen Situation noch als gute Mutter zu fühlen und nicht in Schuldgefühlen unterzugehen.“ Sie rät Eltern in derartigen Situationen, sich innerlich aufzurichten und zu ihren Kindern zu sagen: „Kind, leider muss ich dir das zumuten, aber die Zeit, die wir gemeinsam haben, wollen wir besonders genießen. Schön, dass es uns beide gibt.“
Kinderkrippe: Die Kinder sollen sich sicher fühlen
Was macht gute Frühbetreuung aus?
Daniela Pichler-Bogner: Es geht einerseits um bestimmte Rahmenbedingungen, die ermöglichen, dass sich Kinder in diesem jungen Alter in der Krippe in Sicherheit fühlen. Sie sollen sich im Tagesablauf orientieren können und wissen, wer wann verlässlich für sie da ist. Kinder befinden sich in diesem Alter in einer Entwicklungsphase, in der sie noch sehr auf eine stabile und verlässliche Beziehung angewiesen sind, da sie dabei sind, ihre Selbstständigkeit und ihr Ichbewusstsein zu entwickeln. Dieses entfaltet sich mit zweieinhalb bis drei Jahren.
Wie kann man sich den Aufbau dieses Ichbewusstseins in den ersten drei Lebensjahren vorstellen?
Das Ichbewusstsein entwickelt sich einerseits durch die sensomotorischen Aktivitäten, bei denen Kinder sich selbst und ihre Umwelt kennenlernen. Emmi Pikler hat hierfür einfache Materialien entwickelt, die es Kindern in diesem Alter ermöglichen, ihre Fähigkeiten sowohl in der Bewegung als auch im freien Spiel aus eigener Initiative zu entfalten. Andererseits spielen die Begegnungen mit Bezugspersonen eine wesentliche Rolle. In ihnen sollen die Kinder erleben, dass sie als Menschen wichtig sind. Dabei geht es darum, dass ihnen die Erwachsenen in ihrem Umfeld vermitteln: Es ist eine Freude, mit dir zusammen zu sein. Und: Es ist mir wichtig, deine Bedürfnisse wahrzunehmen und sie zu befriedigen. Man weiß aus der Bindungsforschung, welche Bedeutung das feinfühlige Reagieren auf die Signale der Kinder hat, weil es ihnen die Sicherheit gibt, dass sie gehört und ernst genommen werden und dass es sich auch lohnt, sich mitzuteilen!
Wie können KrippenpädagogInnen diese Sicherheit herstellen?
Hier spielt die Qualität der Eingewöhnung eine bedeutsame Rolle. Diese soll zum Ziel haben, dass Kinder und Eltern die Erfahrung machen, dass es in der Fremdbetreuung ähnliche Verlässlichkeiten wie zu Hause gibt. Man kann deshalb auch keinen allgemeingültigen zeitlichen Rahmen für diese Phase festsetzen. Es ist wichtig, dass die PädagogInnen mit den Eltern den Ablauf dieses Prozesses im Vorfeld besprechen. Es sollte eine Pädagogin als Hauptbezugsperson für die Eingewöhnung vorgesehen sein. Je ungeteilter die Aufmerksamkeit ist, desto wirksamer erlebt das Kind: „Hier ist jemand, dem ich vertrauen kann.“
Wie sollten sich Eltern in dieser Zeit verhalten?
Wir gehen davon aus, dass es günstig ist, dass sich der entsprechende Elternteil zu Beginn mit dem Kind in der Gruppe befindet, da dies dem Kind die Gewissheit vermittelt: „Die Mama weiß, wo ich in Zukunft sein werde.“ So erleben Kinder: „Meine Mutter reagiert interessiert und vertrauensvoll auf die Umgebung und auf die neue Bezugsperson, also kann ich auch vertrauen.“ Mütter sollen aber vor Beginn darüber aufgeklärt werden, welche Rolle sie in diesen Räumlichkeiten haben. Sie sind der sichere Hafen für ihr Kind. So kann es selbst spüren, wie lange es von der Nähe zur Mutter aus beobachten möchte und wann es neugierig auf die neue Situation wird und sich von ihr lösen will. Für viele Kinder ist es ein erstes Sichtrennen von der Mutter, und der Übergang braucht Zeit und Aufmerksamkeit.
Es ist aber auch wichtig für die Kleinen, zu erfahren, bei wem die Zuständigkeit liegt, wenn die Mama nicht mehr da ist. Interessiert sich zum Beispiel ein Kind für die Bausteine, wird es verständlicherweise zuerst den Blick zur Mutter wenden. In dem Moment kann die Pädagogin sich ihm zuwenden und sagen: „Ich sehe, du interessierst dich für die Bausteine, ich kann sie dir zeigen, die Mama schaut dir dabei zu.“ Diese Begleitung vermittelt auch Eltern die Sicherheit, dass ihr Kind hier gut aufgehoben sein wird.
Daniela Pichler-Bogner ist Obfrau der Österreichischen Pikler-Hengstenberg-Gesellschaft und befasst sich seit Jahren mit Fragen der Frühbetreuung. Sie leitete 13 Jahre lang Pikler-SpielRaum-Gruppen für Eltern und Kleinkinder, bietet pädagogische Unterstützung und Supervision für Betreuungseinrichtungen an und ist als Referentin in der Pikler-Aus- und Weiterbildung im In- und Ausland tätig.
Erschienen in „Welt der Frau“ in der Ausgabe Juli/August 2015. Hier können Sie sich die Einzelausgabe bequem nachbestellen.