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04-05/24

Buchempfehlung: „Die Eistaucher“

Buchempfehlung: „Die Eistaucher“

Man staunt, wie wenig man als Erwachsene doch von jungen Menschenseelen weiß. Und vielleicht sogar auch von sich selbst.

Ein mutiger Tanz auf dünnem Eis

Dieser Roman gehört in jede Bibliothek, gehört all jenen in die Hand gedrückt, die jammern, dass sich Jugendliche doch so schwer erreichen lassen. Ich liebe ja den Begriff „Entwicklungsroman“, nenne diesen Roman also auch so und füge den neudeutschen Genre-Begriff „Coming-of-Age-Roman“ dazu.

Die Autorin entwirft Skizzen der einzelnen Persönlichkeiten, lässt sie einander begegnen, gruppiert Erwachsene rund um sie herum: Man staunt, wie wenig man als Erwachsene doch von jungen Menschenseelen weiß. Und vielleicht sogar auch von sich selbst.

Dieser Entwicklungsroman, diese Coming-of-Age-Geschichte ist nicht zimperlich, was die Innensicht ihrer Protagonisten und ihrer Handlungen angeht: Die drei Jugendlichen sind Außenseiter und erkennen sich bereits in der ersten Schulstunde, als es heißt „Eine schnelle Vorstellrunde, bitte!“ Und schon kommt die erste Meldung, was denn der Name Ras bedeuten solle, ob er eine Abkürzung sei? Und schon steht man wieder als der Blöde da, man reißt sich zusammen, die anderen bilden ja eine Mehrheit.

Iga ist ebenfalls auf dem Weg in die neue Schule, diesmal wird es gut gehen, sie wird sich konsequent verstellen, ihr kann jetzt keiner mehr was! Hier bleibt sie in jedem Fall länger als in den beiden Schulen, die sie zuvor besuchte, sehr selten besuchte, zugegeben! Die Hierarchie in diesem Internat und auch in der Schule zeigt sich auch darin, welcher Jahrgang in der Pause zwischen Vormittagsunterricht und Nachmittagsbeschäftigung durchs Gelände streunen darf.

Gemeinsam mit dem „schönen Sebastian“ und Rilke-Rainer begreifen Inga, die Skaterin, Ras, der Neureiche und Pummelige sowie die Schönheit Jess, wie verlogen die Erwachsenen mit ihnen umspringen. Oder warum macht die Französischlehrerin Franziska Fellbaum jetzt Iga eindeutige Avancen? Gut, dass Rilke Rainer derzeit so auf die Gedichte von Ingeborg Bachmann steht, da ist doch die Rede davon, dass die Wahrheit den/dem Menschen zuzumuten sei!

„Es war 13 Uhr. Das Lehrerzimmer fast leer. Die meisten unterrichteten oder saßen im Buffet beim Mittagessen. Franziska wollte nicht über Iga sprechen. Das letzte Treffen im Park Cafè lag ihr noch im Magen. ...“
Seite 172

Und schon motzt der Lehrerkollege Hochleitner, dem Iga in dessen Unterrichtsfach überlegen ist, dies auch zeigt und ihn damit immer wieder aus der Fassung bringt: Nicht, dass er sich selbst hinterfragen würde, er nennt Iga eine Ruhestörerin und Auwieglerin, bei bzw. an ihm und seinem Unterricht sei doch wirklich alles perfekt!, dass Iga nicht hierher gehöre, eine Aufwieglerin und Ruhestörerin sei. Die Eistaucher kommen mit diesen Ungerechtigkeiten gegen sie, die Außenseiter, vordergründig gut zurecht: Als sie aber die drogenabhängige Maja im Park finden, übel zugerichtet, sexuell missbraucht von zwei Polizisten, agieren sie deutlich radikaler: In der Welt der Erwachsenen gibt es keine Gerechtigkeit für Jugendliche, Menschen wie sie.

„Wenn Iga Maja ansah, kamen ihr die Handlungen vom Hochleithner, Franziskas Verrat ... wie Sternschnuppen vor. ZU klein und unbedeutend, um irgendeinen Einfluss auf irgendetwas zu haben. ... Wenn Iga auf Maja blickte, wirkte ihr eigenes Leben wie eine Sandkiste im ewigen Sommer.“
Seite 297

Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Roman nicht lesen

Jugend, Freundschaft, Leidenschaft, Sommer, das Andersssein, das Dasein als Außenseiterin, als Außenseiter, Erinnerungen an die eigene Jugend, – wer liebt Vorstellrunden vor versammelter Klasse? – Fragen der Gerechtigkeit, Aufklärung, Verführung, Verleumdung …

Kaśka Bryla

Die Autorin ist in Wien geboren, zwischen Warschau und Wien aufgewachsen; Studium der Volkswirtschaft in Wien, Studium am Literaturinstitut in Leipzig, Mitbegründerin des Netzwerkes PS – Politisch Schreiben; der vorliegende Roman wird ebenso begeistert rezensiert wie ihr Debütroman „Der rote Affe“.

Kaśka Bryla
Die Eistaucher.
Roman.
Salzburg – Wien: Residenz 2022.
320 Seiten.
ISBN 978-3-7017-1751-4

Christina RepolustChristina Repolust

Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at

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  • Veröffentlicht: 11.05.2022
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