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03/24

Was ist aus unseren Träumen geworden?

Was ist aus unseren Träumen geworden?

In jungen Jahren haben wir viele Pläne für unser Leben. Manche davon gehen wir direkt an, andere verschieben wir auf später. Und auf später und später. Plötzlich scheint das einst endlos wirkende Leben begrenzt, und wir bemerken, dass wir auf unsere Träume vergessen haben.

Erik ist 17 und kommt soeben aus Bremen zurück, vom Informationstag einer deutschen Fluglinie. Von klein an war er von öffentlichen Verkehrsmitteln fasziniert, deren Krönung Flugzeuge sind. Auf die Frage, wie seine nächsten fünf Jahre aussehen, gibt er eine blitzschnelle und klare Antwort: „Ich maturiere, mache Zivildienst im Ausland und werde Pilot.“

Kinder und Jugendliche brauchen Lebensträume, um ihre Zukunft zu gestalten. Träume treiben sie an, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und auf ein Ziel zuzusteuern. Im Ideal­fall läuft es so, wie Erik es plant. Das „wirkliche Leben“ allerdings gestaltet sich oft anders. Man verzichtet auf sein Wunschstudium aus Vernunftgründen; man lernt einen Partner oder eine Partnerin kennen, der oder die nicht die gleichen Wünsche hat; das geplante Jahr in Italien verkürzt man auf einen Monat – bestimmte Träume verschieben wir immer wieder auf später, so lange, bis wir gar nicht mehr wissen, dass wir sie geträumt haben. „Das muss noch lange kein Problem sein“, sagt Psychiater Harald Merl, „wir haben schließlich mehrere Träume für mehrere Lebensbereiche. Nicht jeder ist gleich wichtig. Solange jemand ehrlich und aufrichtig von sich sagen kann, dass er zufrieden ist, wird er wohl manche seiner Träume leben. Problematisch wird es erst, wenn der Lebenssinn verloren geht.“

Ob der Lebenssinn verloren gegangen ist, zeigt sich nicht so schnell, wie man vermuten könnte. Meist stecken wir nämlich so richtig fest mitten im Leben: Wir sind beruflich engagiert, haben vielleicht Kinder, jonglieren den Alltag, schaukeln unser Sozialleben und kommen immer schneller außer Atem. Zum Nachdenken bleibt keine Zeit. Bis wir dazu gezwungen werden, eines Tages. Dann nämlich, wenn sich die Seele meldet, mit Schlafpro­blemen, Antriebslosigkeit, innerer Leere oder verschiedenen körperlichen Wehwehchen. Oft bringen Krisen einen auch dazu, das Leben zu hinterfragen und bei Bedarf gegenzusteuern. Bei Markus Mitterer*, alleinstehend, 50 Jahre, war ein Burn-out der Anlass, sich einen Jugendtraum zu erfüllen. Er nahm Reitstunden, kaufte sich ein Jahr später sein eigenes Pferd und gibt heute sogar vereinzelt Reitunterricht. Er arbeitet zwar immer noch in seinem aufreibenden Job, zum Ausgleich schöpft er aber viel Energie aus dem Umgang mit seinem Pferd und den stundenlangen Ausritten. 

Entwicklungshelfer

Unerfüllte Wünsche, ungelebte Sehnsüchte oder Konflikte zeigen sich vielen Menschen auch in ihren Tag- und Nachtträumen. Für Schlafforscherin Ortrud Grön sind Träume Entwicklungshelfer. Sie ermöglichen, zu erkennen, wo etwas nicht im Einklang ist. Träume speisen sich aus Emotionen und haben mit Sorgen, unerledigten oder unbewältigten Dingen zu tun, die in der Seele weiterarbeiten. Nachtträume rühren an die offenen Wunden des Tages. Dadurch konfrontieren sie uns auf kreative Art immer wieder mit unseren Konflikten.

Der amerikanische Pionier in der Schlafforschung, William Dement, bezeichnet Träume als die „Hüter der Gesundheit“. Träume öffnen Perspektiven, verarbeiten Stress und bieten Problemlösungen an. Um sich Träume nutzbar zu machen, bedarf es einer Deutung. Träume bedienen sich einer verschlüsselten Sprache und verwirren uns oft mit ihrer Symbolik. Der beste Traumdeuter ist aber nicht die Onlinedatenbank oder das Traumnachschlagewerk, sondern die oder der Träumende selbst. Nur sie oder er kann die codierten Bilder der Nacht interpretieren, hat einen Bezug zu den Schlüsselszenen und weiß, welche Gefühle damit im Traum verbunden waren. Nicht nur Nachtträume, auch Tagträume sind eine wertvolle Hilfe auf dem Weg zu uns selbst. Wenn wir regelmäßig beobachten, was wir vor uns hin träumen, werden wir viel über die tieferen Wünsche herausfinden.

Besinnungslose Betriebsamkeit

Deutschlands „Nationalpsychologe“ Stephan Grünewald hat sein neues Buch „Die erschöpfte Gesellschaft“ den Träumen gewidmet, den Lebensträumen ebenso wie den Nachtträumen. Seine Kernaussagen lauten: Wir leben in einer besinnungslosen Betriebsamkeit, Erschöpfung ist der Preis, den eine traumlose Gesellschaft zahlt. Wir brauchen Ideen, wofür wir leben wollen. Und: Träume sind die Voraussetzung für Veränderung und Innovation. Für Markus Mitterer ist diese Idee sein Pferd. Man muss nicht gleich sein ganzes Leben umkrempeln, um sich besser zu fühlen. Oft haben kleine Schritte eine große Wirkung. Aber dass es Träume für ein gelungenes Leben braucht, darin sind sich ExpertInnen einig.

Kraftquellen, Impulsgeber

Dass junge Menschen Träume brauchen, scheint allen einsichtig, und wir motivieren Jugendliche dementsprechend. Bei uns selbst hingegen übersehen wir die wichtigen Funktionen des Träumens und irren allzu oft sinn- und planlos durchs Leben. Dabei bieten Träume auch Erwachsenen Orientierung, sie wecken Kräfte, geben Motivationsschübe und stellen Entwicklungsbilder dar. „Träume sind Visionen von uns selbst“, sagt Merl, „sie zeigen, wer wir sein können, und lassen uns mit diesem Bild auch Krisen gut überstehen.“ Wann es Zeit wird oder sogar notwendig ist, sich auf die eigenen Träume zu besinnen, kann nur jede und jeder für sich selbst bestimmen. Wenn das Leben zu stocken scheint, können kleinere oder größere Träume es wieder ins Fließen bringen. Für größere mag Mut notwendig sein. Zuweilen auch Durchsetzungsvermögen. Die eigenen Träume zu leben, kann Angst machen, auf Widerstände stoßen und bringt Unsicherheit.

Träume sind Entwicklungshelfer. Unerfüllte Wünsche und ungelebte Sehnsüchte zeigen sich vielen Menschen in Tag- und Nachtträumen.

Vergessene Wünsche

So sicher wie ein vertrautes Hamsterrad ist eine Veränderung jedenfalls nicht, mitunter fürchten wir schmerzliche Erfahrungen. Aber wenn wir unsere Träume nicht leben, so Grünewald, schränken wir uns selbst ein. Und am Ende sei das beschränkte Leben die schmerzlichste Erfahrung. In ihrem Buch „Wenn Körper und Seele streiken. Die Psychosomatik des Alltagslebens“ schreibt die deutsche Soziologin Annelie Keil: „Die Freiheit zu leben besteht im Leben, im Tun und nicht im Unterlassen. Wie das Glitzern des Wassers kann man auch das Glitzern des eigenen Lebens nicht kaufen.“ Was aber, wenn wir gar nicht wissen, wie wir unser Leben zum Glitzern bringen können? Viele Menschen haben im Laufe der Jahre vergessen, wer sie sind, und kennen ihre wahren Wünsche nicht mehr. Oft stülpen sie sich fremde Träume über, zum Beispiel jene der Eltern oder des Partners, und glauben dabei, ihre eigenen zu leben. Eine Gefahr bergen heute auch die Medien, wie Psychiater Merl meint: „Sie vermitteln einen merkwürdigen Antrieb, der sehr plakativ wirkt. Es werden Lebensmöglichkeiten dargestellt, die fast zwingend wirken.“

Die Ursehnsucht

Nicht alle Träume von früher kann man wiederauferstehen lassen, von manchen müssen wir uns endgültig verabschieden. Entweder passen sie nicht ins jetzige Leben – möglicherweise wollte man einst auf einem Bauernhof in Frankreich leben – oder sie lassen sich schlichtweg nicht mehr erfüllen. Zum Beispiel, wenn körperliche Einschränkungen gewisse Tätigkeiten nicht mehr erlauben. Wenn ein Lebenstraum zerbricht, tut das weh. Pater Anselm Grün betont, dass es wichtig sei, solche Träume zu betrauern. Nicht verleugnen, nicht daran festhalten, sondern durch den Schmerz hindurchgehen – das lässt uns weiterkommen. Auch wenn wir nicht leben konnten, was wir erträumten, haben wir dennoch wichtige Erfahrungen gemacht. Und vielleicht gelingt es mit genau diesen Erfahrungen, die Essenz der Lebensträume zu finden. Also zu jenem Kern vorzudringen, der als „Ursehnsucht“ den Traum erst hervorbrachte. Diese Sehnsucht mit der aktuellen Lebensaufgabe zu verbinden, sieht für jeden anders aus. Für Roland Marusek*, 48, war das stundenlange und leidenschaftliche Indianerspielen in der Kindheit Ausdruck seines Freiheits- und Abenteuerwunsches. Für ihn ist dieses Bedürfnis heute erfüllt, wenn er so oft wie möglich alleine wandert und unbekannte Gegenden erkundet. Seine ältere Schwester Irene hat ebenfalls gerne Indianer gespielt. Für sie steckte in dieser Beschäftigung allerdings etwas anderes, nämlich der Wunsch nach einem wilden, ungekünstelten Leben in der Natur und mit Tieren. Sie hat beschlossen, die Weinviertler Kräuterakademie zu absolvieren und dann alle ihre FreundInnen mit Heilkräutern zu versorgen.

Es ist nie zu spät, an Lebensträume anzuschließen, auch wenn sie sich nicht mehr eins zu eins umsetzen lassen. Denn Lebensträume zu realisieren, bedeutet nicht automatisch, etwas aufzugeben oder alles zu verändern. Ja, Lebensträume müssen nicht einmal vollständig erfüllt sein, und schon gar nicht müssen sich alle verwirklichen. Laut GlücksforscherInnen geht es darum, sie anzustreben. Wichtig aber ist, überhaupt Träume zu haben und zu wissen, wonach sich unser Herz sehnt. Dann beginnt auch unser Leben wieder zu glitzern. 

* Namen von der Redaktion geändert.

Auf der Suche nach den eigenen Träumen. Hilfreiche Übungen.

Achtsamkeit und Selbstwahrnehmung:
Dazu gibt es eine einfache Übung, die große Wirkung hat, wenn man sie regelmäßig durchführt: sich entspannt hinsetzen, die Augen schließen und beobachten. Welche Gefühle und Gedanken kommen, welche Personen tauchen auf, welche Situationen erscheinen?

Eine Vision entwickeln:
Stellen Sie sich vor, in zehn Jahren strahlt ein Fernsehsender einen Beitrag über Ihr bisheriges Lebenswerk aus: was Sie erreicht haben, worauf Sie stolz sind, welche Menschen an Ihrer Seiten waren, welche Ziele Sie erreicht haben und welche Stärken und Talente Ihnen dabei geholfen haben.

Dem inneren Bild folgen:
Um vergessene innere Bilder zu finden, hilft es, sich an Situationen der Kindheit zu erinnern: Womit hat man stundenlang gespielt und wobei auf alles andere vergessen, was hat man gesammelt etc.? Fragen Sie sich, welche Gefühle und Sehnsüchte mit solchen Spielen und Leidenschaften verbunden waren und was Sie heute damit noch verbinden.

Sich selbst näherkommen:

  • Wenn Sie noch fünf weitere Leben hätten, was würden Sie in diesen tun?
  • Schreiben Sie 20 Aktivitäten auf, in die Sie gerne Zeit investieren. Wann haben Sie diese jeweils zuletzt gemacht?
  • Listen Sie fünf Menschen auf, die Sie bewundern. Fragen Sie sich, warum Sie diese Menschen bewundern und welche Werte, Eigenschaften und Fähigkeiten sie jeweils besitzen, um dieses Leben zu führen.
  • Wenn Sie jetzt 20 wären, welche fünf Abenteuer würden Sie sofort unternehmen?

Erschienen in „Welt der Frau“ Mai-Ausgabe 2015

 

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  • Veröffentlicht: 26.08.2021
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