Wer die Weltgeschichte in Lebensentwürfen und unfreiwilligen Korrekturen derselben suchen und finden will, wird diesen Roman lieben.
Geschichten gegen das Vergessen und Vergessenwerden
Isidor ist der Urgroßonkel der Autorin. Sie zeichnet dessen Reise aus Galizien nach Wien, dessen Aufstieg aus bitterer Armut in ein feudales, auch an Kunst und Literatur reiches Leben nach. Doch stärker und intensiver als dessen Lebenslauf bringt Shelly Kupferberg in ihren Schilderungen das Ringen ihres Großvaters Walter zum Ausdruck: Soll er nach Ende des II. Weltkrieges, genauer nach 1956 Israel wieder verlassen und nach Österreich, nach Wien, zurückkehren? Was hält ihn in Israel? Wer die Weltgeschichte in Lebensentwürfen und unfreiwilligen Korrekturen derselben suchen und finden will, wird diesen Roman lieben. Er ist auch ein Gewinn für jeden Deutsch- und Geschichteunterricht, für jeden Literaturkreis und für alle, die aus der Geschichte lernen wollen.
Dr. Isidor Geller ist einer, der es geschafft hat: Er hat das Schtetl in Galizien und damit die Armut, aber auch seine Eltern verlassen. Klug und gut gebildet, findet er in Wien neben seinem Studium stets ertragreiche Arbeitsstellen, heute würde man sie „Jobs“ nennen. Die fünf Geschwister Geller, die Brüder David, Nathan, Rubin, die Schwester Fejge und schließlich auch Isidor, vormals Israel, haben alle diesen „jüdischen Stempel“, den ihnen ihre der alten Orthodoxie anhängenden Eltern einst aufdrückten, mehr oder weniger erfolgreich auszumerzen versucht.
„Mein Urgroßonkel war ein Dandy. Sein Name war Isidor. Oder Innozenz. Oder Ignaz. Eigentlich aber hieß er Israel. Doch dieser Name war zu verräterisch.“
Batja, die Mutter, sorgt für den Unterhalt der fünfköpfigen Familie und sie ist es, die das Weggehen ihrer Kinder guthieß und bereits früh die Bedeutung von Bildung erkannt hatte. Die Kinder sprachen, wie es wohl das Vielvölkergemisch im habsburgischen Galizien erforderte, Polnisch, Ruthenisch und Deutsch. Jiddisch sprach man zuhause.
1905 zog Israels Bruder David nach Wien, wo er eine angesehene wie gut bezahlte Stelle antreten konnte, 1908 zogen Israel wie Rubin zu ihm. Israel war 22 Jahre alt, er wusste, er würde es zu etwas Großem bringen!
Immer wieder mischt die Autorin die Eindrücke ihres Großvaters Walter in diese Erzählungen vom Weggehen und vom Aufstieg der Brüder, schließlich auch der Mutter und Schwester Geller. Walter genießt die Aufmerksamkeit seines Onkels, der ihn gern bei seinen Empfängen den Gästen vorstellt und seinen Stolz auf den so begabten Neffen nie verhehlt. Isidor vertraut seinen Angestellten, versteckt die Aufstellungen seiner Vermögenswerte nie. Warum denn auch, schließlich ist er doch gut zu ihnen, überaus großzügig sogar! Die antisemitischen Stimmen werden lauter, die Menschen, viele davon in Uniformen, grölen auf den Straßen Wiens. Walter ist an diesem 13. März 1938 wieder auf dem Weg zu seinem Onkel und will ihn ein weiteres Mal zum Weggehen überreden. Man wüsste ja nie, was die Nazis im Schilde führen! Auch Walter soll in Folge die Häme der Nazis zu spüren bekommen: Die öffentliche Demütigung der jüdischen Bevölkerung ist in unzähligen Dokumenten überliefert.
„Einige der Juden knieten sich nieder und fingen hilflos an, den Kot mit den Händen zusammenzuschieben und zu den Klosetts der Umkleideräume zu bringen. Mehr eine Schmiererei als eine zielführende Unternehmung.“
Die Autorin schildert am Beispiel der Lebenswege ihres Großvaters Walter und ihres Urgroßonkels Isidor, wie Menschen gebrochen wurden. Sie folgt den Spuren Walters durch das Wien seiner Jugend und begreift, wie sehr er diese Straßen und dieses Leben in Palästina und in Israel vermisst hat. Sie dankt ihren Großeltern am Schluss des Romans. Ihre Familie, so schreibt sie, habe so gut wie keine Erbstücke, keine Gegenstände, die die Familiengeschichte spiegeln könnten. Es seien die Geschichten das wirkliche Vermächtnis, denn sie haben überlebt und können weitererzählt werden. Ich wünsche mir, sie erzählt weitere Geschichten!
Was Sie versäumen, wenn Sie diese beeindruckende Spurensuche nicht lesen:
Weltgeschichte in ihrer Auswirkung auf Familien, Wege aus der Enge, aus der Armut; gekonntes Zusammensetzen von Zerbrochenem, Rekonstruktion von Übergängen, Verlusten, Neubeginn; feinsinnige Schilderung von Charakteren mithilfe unzähliger Details; Beherrschung des großen Dramas, das Entwurzelung, Verfolgung und Krankheiten in und bei Menschen/Familien eine Bühne gibt, ohne sich zu verlieren oder zu verzetteln. Jahreszahlen bekommen ein Gesicht. So sollte Geschichte unterrichtet werden!
Shelly Kupferberg
Die Autorin: 1974 in Tel Aviv geboren, in Westberlin aufgewachsen, Studium der Publizistik, Theater- und Musikwissenschaft. Die Journalistin lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Shelly Kupferberg
Isidor. Ein jüdisches Leben.
Zürich: Diogenes Verlag 2022.
Christina Repolust
Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at
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