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Bewegung
04-05/24

Immer schön langsam

Immer schön langsam

Sonnenstrahlen, Farben, Wörter und Klänge sammeln, das tut in diesem Frühling besonders gut. Das weiß auch Maus Frederick.

Mit einer solchen Aufmerksamkeit habe ich dem Blättersprießen der Bäume rund um uns noch nie zugesehen. Sonst war es gefühlt von einem Moment auf den anderen – zack – plötzlich grün, jetzt beobachte ich täglich: Zuerst waren die Hainbuchen dran, ein bisserl hats gedauert, bis die Blätter der Linde und der Birken und später die des Ahorns kamen. Die Eiche hat sich etwas bitten lassen, und die Buche ist noch immer nicht grün. Die Zwiebeln der Krokusse, denen wir jetzt förmlich beim Wachsen zusehen, haben wir im November noch schnellschnell in die Erde befördert, wahrscheinlich irgendwann zwischen Hausübung und Flötenunterricht. Jedenfalls dalli, bevor es dunkel wurde. Auch das zeigt mir, dass sich mein und unser Tempo verändert hat. Man merkt es nicht auf den ersten Blick – es geht immer noch ziemlich turbulent bei uns zu, aber wir sind langsamer geworden. Und zwar so, dass ich gar nicht weiß, wie lange ich brauche, um wieder zu beschleunigen und ob ich das für so erstrebenswert halte.

Irgendwie scheint es manchmal unpassend, sich jetzt in diesem gespenstischen Stillstand den Kopf über individuelle Befindlichkeiten und Bedürfnisse zu zerbrechen. Aber das bringt die Krise eben auch mit sich: dass jeder und jede Einzelne so klar wie selten sieht, was für ihn oder sie unverzichtbar ist. Was man jetzt schätzt oder eben schmerzlich vermisst: Bewegung, Freundschaft, Nähe, Sicherheit, Natur, Musik, Familie, Arbeit, Kunst, Gemeinschaft oder Raum zum Planen und Träumen …

Dabei fällt mir mein Lieblingsbilderbuch „Frederick“ ein. Leo Lionnis poetische Geschichte über Frederick und seine Feldmausfamilie lobt den Wert des vermeintlich sinnlosen Nichtstuns und zeigt, dass Natur und Kunst wichtige Lebensmittel, sogar Überlebensmittel sind, wenn es hart wird. Während die anderen Mäuse Nüsse und Körner für den Winter sammeln, bleibt Frederick ruhig sitzen – er sammelt Sonnenstrahlen, Farben und Wörter – und erntet zunächst Unverständnis. Als im langen Winter Nüsse und Körner aufgebraucht sind, holt Frederick seine „Vorräte“ hervor – und wärmt die Mäuse mit seinen Sonnenstrahlen, erzählt ihnen von den Farben der Mohnblumenfelder, unterhält sie mit Gedichten. Die Mäuse richten sich wieder auf.

Daran muss ich denken, wenn sich die Sonne in diesem Frühling besonders wärmend anfühlt, oder als ich Mitte März frische Blumen für ebenso dringend gehalten habe wie Klopapier. Wenn der Blick aus dem Fenster oder vom Balkon auf Vögel und Pflanzen jetzt die Seele wärmt, wenn mehr gelesen wird und Geschichten Mut machen, wenn ein Gespräch über den Zaun sich wie ein kleiner Urlaub anfühlt. Wenn Musik aus dem Fenster die erste Antwort auf die Krise ist und sich KünstlerInnen und sogar große Orchester von ihr nicht vom Spielen abhalten lassen. Wenn Kunst und Natur die Welt abseits der harten Fakten zusammenhalten. Dabei entstehen auch Vorräte für danach. Wenn es vielleicht wieder schneller gehen muss.

Julia Rumplmayr

lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen (5 und 7) in einem Haus mit Garten im Mühlviertel.
Nervenstatus: sonnig bis wolkig.
www.juliarumplmayr.at | www.linzerkind.at

Foto: Alexandra Grill

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  • Veröffentlicht: 16.04.2020
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