Zwei Liebende fallen einander in die Arme, eine Mutter sorgt sich um ihr fieberndes Kind, eine Frau blickt aus dem Fenster: Wie ein Film spult sich hier Geschichte um Geschichte und Impression um Impression ab.
Beobachtungen in der Großstadt
Feldmann führt ihre LeserInnen ins Warenhaus, so in ihrem Beitrag vom 12. Jänner 1919, und lässt sie dort miterleben, wie ein fünfzehnjähriges Lehrmädchen beschimpft wird. Armut und Rivalitäten, Freundschaft und Großzügigkeit, all diese Komponenten bieten den Reiz der Geschichten: Da mag das Lehrmädchen – zurecht! – kecke Widerworte geben, wenig später wird sie schwer krank sein. Und ja, die junge Frau weiß, wie nah der Tod bereits ist. Ohne Pathos erzählt Else Feldmann von den Menschen, die ihr begegnen, die sie beobachtet, die sie anziehen.
„Man hat jetzt so viele Erlebnisse, und alle sind so wuchtig und schwer. Wohin man schaut, Ungerechtigkeiten, erdrückendes Unrecht. Man muss an die Menschen denken, die leiden! ... Wie eisig kalt ... Wie gut wäre die Straßenbahn, die einen bis nach Hause brächte!“
Besonders beeindruckend ist auf Seite 71 der Beitrag über Käthe Kollwitz aus der Arbeiter-Zeitung vom 18. Juli 1924:
„Kollwitz ist eine der größten Menschengestalterinnen, die es gibt. Bilder gibt es von ihr (die Beratung vor dem Weberstreik), die sich neben Rembrandt behaupten könnten. ... Käthe Kollwitz ist hauptsächlich die Verkünderin des proletarischen Leides. Immer wieder zeigt sie die Opfer des Mehrwertes.“
Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Debütroman nicht lesen:
Beschreibungen des Großstadtlebens 1919–1938, exakte Beobachtungen, Zeugnisse eines großen sozialen Gewissens, dialogreiche Alltagsskizzen und -szenen.
Else Feldmann:
1884 in Wien geboren, 1942 im polnischen Vernichtungslager Sobibor ermordet; ist in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, verfasste Romane, Theaterstücke, Erzählungen sowie sozialkritische Reportagen; 1933 Mitbegründerin der Vereinigung sozialistischer SchriftstellerInnen.
Else Feldmann
Flüchtiges Glück. Reportagen aus der Zwischenkriegszeit.
Herausgegeben von Adolf Opel und Marino Valdez.
Wien: Edition Atelier 2022.
Christina Repolust
Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at
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