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03/24

„Es muss Freude machen, Kinder zu haben“

„Es muss Freude machen, Kinder zu haben“

Warum die Kleinfamilie keine Zukunft hat, wie Kinder gut aufwachsen können und weshalb Eltern politisch aktiv werden sollten: ein Gespräch mit dem Schweizer Kinderarzt und Bestsellerautor Remo H. Largo.

Herr Largo, Sie sagen, dass die Kleinfamilie eine permanente Überforderung ist. Was macht die Kleinfamilie falsch?
Remo H. Largo: Sie macht nichts falsch. Aber sie kann das gar nicht leisten, was sie leisten müsste. In der Vergangenheit haben Eltern ihre Kinder nie allein großgezogen, sondern es waren immer Lebensgemeinschaften. Die Lebensgemeinschaft ist mit der Industrialisierung und modernen Arbeitswelt verloren gegangen. Wir leben heute in einer anonymen Massengesellschaft, für die der Mensch nicht gemacht ist. Was heute den Eltern abverlangt wird, ist eine Überforderung. Kinder sind nicht darauf ausgerichtet, dass zwei Personen oder oft auch nur eine ausschließlich für sie sorgt. Die Natur geht davon aus, dass es mehrere Erwachsene gibt und vor allem auch viele Kinder.

Ist die Emanzipation und damit einhergehend die Berufstätigkeit der Frauen auch schuld an dieser Entwicklung?
Die Berufstätigkeit der Frauen ist grundsätzlich begrüßenswert. Ich habe drei Töchter, und ich bin sehr froh über die gesellschaftliche Entwicklung, die in den vergangenen 50 Jahren stattgefunden hat. Sie ist wohl einmalig in der ganzen Menschheitsgeschichte. Sie hat zu einer unglaublichen Befreiung der Frau geführt, wenn Sie an die existenzielle, sexuelle oder soziale Selbstbestimmung denken. Frauen haben heute dieselben Bildungschancen wie Männer. In den Gymnasien sind bis zu 60 Prozent der SchülerInnen Mädchen.

Sie sagen, dass Kinder mehrere Erwachsene und mehrere Kinder brauchen.
Wenn man Kinder beobachtet, wie sie von klein auf miteinander umgehen, realisiert man, wie wichtig vielfältige zwischenmenschliche Erfahrungen für ihre Sozialisierung sind. Wir meinen immer, wir Erwachsenen seien es, die sie belehren, wie sie sich zu verhalten haben, aber dem ist nicht so. Karl ­Valentin brachte es auf den Punkt: „Wir können Kinder nicht erziehen, die machen uns eh alles nach.“ Unsere Vorbildrolle sollten wir hinterfragen.

Warum brauchen Kinder mehrere Erwachsene als Bezugspersonen?
Die Eltern können oft nicht alle Bedürfnisse der Kinder abdecken. Kinder brauchen verschiedene Vorbilder, an denen sie sich orientieren können. Ein anderer Faktor ist die Verfügbarkeit. Wenn es mehrere Bezugspersonen gibt, werden Mutter oder Vater in ihrer Verfügbarkeit nicht ständig überfordert.

Stehen Kinder heute sehr unter Stress?
Laut einer WHO-Studie – ich spreche jetzt von den Daten für die Schweiz – ist ein Viertel der Kinder in der Grundschule sehr gestresst. Da spielen einerseits die Familienverhältnisse eine Rolle, aber auch die Schule und der Leistungsdruck. Selbst die Freizeit wird häufig als Stress empfunden, weil Kinder oft von den Eltern herumkommandiert werden: „Jetzt gehst du in die Musikstunde, in den Fußballverein, ins Ballett.“ Die Kinder sind in hohem Maße fremdbestimmt.

Eltern wollen nur das Beste für ihr Kind und wollen es eben bestmöglich fördern.
Ja, aber was ist das Beste? Hinter dem „Wir wollen das Beste für unser Kind“ stehen sehr oft die existenziellen Ängste der Eltern, die sie auf ihre Kinder übertragen. Angst, dass die Kinder sozial absteigen könnten, dass es ihnen materiell schlechter gehen wird. Sie wollen Kinder möglichst fit machen für eine Gesellschaft, die immer kompetitiver wird. Dieser Druck wirkt sich sehr negativ auf das Wohlbefinden und das Selbstwertgefühl der Kinder aus.

Remo H. Largo (75) wurde bekannt durch seine Langzeitstudien zur kindlichen Entwicklung. Die Zürcher Longitudinalstudien, die er an der Universitäts-Kinderklinik als Leiter der Abteilung „Wachstum und Entwicklung“ verantwortete, gehören zu den umfassendsten Studien in der Entwicklungsforschung. Daraus gingen unter anderem seine Bücher „Babyjahre“, „Kinderjahre“ und „Jugendjahre“ hervor, die als Klassiker der Erziehungsliteratur gelten. In seinem Buch „Das passende Leben“ befasst er sich mit der Frage, wie Individualität und sozialer Zusammenhalt zusammengehen können. Remo Largo hat drei Töchter und lebt im Voralpendorf Uetliberg.

Buchtipp:

Remo H. Largo: Das passende Leben.
Was unsere Individualität ausmacht und wie wir sie leben können.
Fischer Verlag, 14,00 Euro

Fotos: AdobeStock, beigestellt

Erschienen in „Welt der Frauen“ 03/19

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  • Veröffentlicht: 01.03.2019
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