Wenn Paare sich trennen, bleiben die Kinder oft am Wohnsitz eines Elternteils, meist dem der Mutter. Das muss aber nicht so sein. Doppelresidenz ist ein Modell, das Schule machen könnte. Wenn es gut läuft, entlastet es alle Mama, Papa und Kind.
Xenia hat zwei Kinderzimmer. Trotzdem ist die heute 20-Jährige nie ein verwöhntes Kind gewesen, sie hat schlichtweg zwei Zuhause: eines im Haus ihres Vaters in Guntramsdorf, eines in der Altbauwohnung ihrer Mutter in Wien. Von ihrem zweiten Lebensjahr an bis heute wechselt sie täglich den Wohnort: Montags war immer schon „Papatag“, dienstags „Mamatag“, mittwochs wieder „Papatag“ und so weiter. An den Wochenenden wird abgewechselt, in den Ferien ebenso.
Wenn ihre MitschülerInnen sie fragen, wo sie wohnt, sagt Xenia ganz entspannt: „Ich habe zwei Zuhause“, und fügt hinzu: „Ich wohne in Doppelresidenz.“ Dabei lächelt die hübsche junge Frau, die mittlerweile in Ausbildung zur Fotografin ist – vielleicht sogar ein bisschen stolz. Sie ist stolz auf zwei Eltern, die es geschafft haben, nach der Trennung in gleichem Ausmaß für sie da zu sein. Xenias Schulen befanden sich stets in der Mitte zwischen den beiden Wohnorten. Leicht war es nicht, im Alltag immer einen Tag vorauszuplanen. „Ich durfte nie ein Schulbuch zu Hause vergessen und habe oft ein Extraplastiksackerl mit Gewand herumgeschleppt“, erzählt Xenia. Und trotzdem: Sie würde es wieder so wollen.
Die „Doppelresidenz“, auch „Wechselmodell“ genannt, ist nur eine von mehreren Möglichkeiten für Eltern, nach der Trennung zu gleichen Teilen für ihr Kind zu sorgen. Aktuell leben in Österreich rund 173.000 Kinder nach Scheidungen oder Trennungen im Haushalt mit nur einem Elternteil, 88 Prozent davon bei ihrer alleinerziehenden Mutter.
Da Kinder in Österreich offiziell nur einen gemeldeten Wohnsitz haben können, gibt es bis dato keine gesicherten Angaben dazu, wie viele Kinder zwischen ihren beiden Elternteilen hin- und herpendeln. Die Erziehungswissenschaftlerin Judit Barth-Richtarz von der Uni Wien weiß, dass in den letzten fünf bis zehn Jahren ein Umdenken in Österreich begonnen hat und auch neue, alternative Modelle der Fürsorge immer mehr umgesetzt werden. „Früher ging man davon aus, dass Kinder ihren Vater nicht so sehr brauchen. Davon sind wir mittlerweile weit entfernt.“
Erfahrungsbericht: So wird das Wechselmodell gelebt
Auch Xenia spürt, dass sie bei Vater und Mutter nicht nur zwei unterschiedliche Zimmer hat, sondern auch unterschiedliche Beziehungsformen lebt: „Mein Vater ist ernster und schaut darauf, dass ich lerne und sportlich bleibe, meine Mutter ist eher wie meine beste Freundin – mit ihr gehe ich shoppen oder ins Kino.“
Während in Guntramsdorf täglich eine warme Mahlzeit auf Xenia wartet, ist sie in Wien gefordert, sich selbst zu versorgen. Auch wenn die Eltern ansonsten keinen Kontakt haben, werden große Entscheidungen stets gemeinsam getroffen. „Ich wollte die Modeschule zwei Jahre vor der Matura abbrechen“, erzählt die junge Frau. Ihre Mutter hätte sie darin unterstützt, der Vater nicht, er pochte auf den Abschluss. Heute sagt Xenia mit einem Lachen: „Papa sei Dank, dass er sich damals durchgesetzt hat.“ Dass Xenias Eltern so gut kooperieren, mag auch an ihrer ausgeglichenen rechtlichen Situation liegen – beide teilen sich die Obsorge.
Das ist keine Selbstverständlichkeit. In Österreich ging bis 2001 nach einer Trennung oder Scheidung die Obsorge auf die Mutter oder – seltener – auf den Vater allein über. Dass beide Eltern gemeinsam rechtlich für ihr Kind verantwortlich bleiben können, ist also erst seit rund zehn Jahren überhaupt möglich, und das auch nur dann, wenn beide Eltern sich dafür entscheiden – die geteilte Verantwortung verlangt eine bewusste Entscheidung.
In den meisten europäischen Staaten ist dies nicht so. Länder wie Belgien, Frankreich oder Großbritannien haben die geteilte Obsorge rechtlich verankert. In Schweden lebt jedes dritte Kind in Doppelresidenz. Seit Jänner 2013 ist Österreich dennoch nicht mehr ganz so rückschrittlich im europäischen Vergleich. Im neuen Obsorgerecht darf auch gegen den Willen eines Elternteils Antrag auf die geteilte Fürsorge gestellt werden.
Rechtliche Möglichkeiten schaffen Bewusstsein
Die Erziehungswissenschaftlerin Judit Barth-Richtarz konnte in einer Studie mit 1.200 geschiedenen Eltern belegen, dass die geteilte Obsorge fast immer auch in der Praxis zu einer geteilten Verantwortung führt. „Viele Väter fühlen sich nun weniger gekränkt oder unterlegen, da sie wissen, dass auch ein ‚neuer‘ Vater ihren Platz nicht einnehmen kann“, sagt die Expertin. Die Studie zeigt außerdem: Eltern mit geteilter Obsorge streiten weniger und brechen kaum den Kontakt zum Kind ab. In Beratungen beobachtet Barth-Richtarz, dass Gleichberechtigte eher über das „Wie“ der Kinderbetreuung diskutieren, als die Beziehung des jeweils anderen zum Kind generell infrage zu stellen.
Anton Pototschnig weiß, wie es sich anfühlt, seinen Platz zu verlieren. Der Wiener ist Vater eines 13-jährigen Sohnes und einer 24-jährigen Tochter. Als Leo* zwei Jahre alt war, trennten sich Pototschnig und seine damalige Partnerin, das Kind lebte vorerst drei Tage in der Woche beim Vater, vier Tage bei der Mutter. Für Pototschnig, Sozialarbeiter bei der Stadt Wien, war es selbstverständlich, dass er für seinen Sohn nur Teilzeit arbeitete. An Leos sechstem Geburtstag wurde dennoch alles anders.
Pototschnigs Expartnerin forderte bei Gericht einen einzigen Wohnsitz für ihren Sohn ein, und der sollte bei ihr sein; der Richter gab ihr Recht. Als Begründung führte sie an, dass der Sohn mit Schuleintritt mehr Regelmäßigkeit brauche. „Aber die hatte er doch“, stellt Pototschnig nicht ohne bitteren Unterton in der Stimme fest. „Ich wollte nicht zum Freizeitelternteil werden. Beziehungsqualität entsteht für mich im Alltag, beim In-die-Schule-Bringen, beim gemeinsamen Feiern, beim Trösten, wenn es einmal nicht so gut läuft.“
Der Vater, für den eine Welt zusammengebrochen war, wurde bald selbst aktiv und gründete 2007 die Plattform „Doppelresidenz“, einen Arbeitskreis für Mütter und Väter, die sich diesem Modell verpflichtet fühlten. Mittlerweile hat er ein Buch zu dem Thema geschrieben: „Auf Augenhöhe Eltern bleiben. Abschied vom Mythos der Täter-Väter und Opfer-Mütter“.
Leben bei einem Elternteil
Pototschnigs Initiative hat es bereits des Öfteren in die Medien geschafft, dennoch ist die Doppelresidenz ein in Österreich nach wie vor relativ seltenes Modell. Obwohl in Xenia Cubas Klasse fast jeder zweite Mitschüler getrennte Eltern hat, ist sie die Einzige mit zwei Wohnsitzen. Die meisten sehen den Vater nur am Wochenende, viele haben den Kontakt zu einem Elternteil überhaupt verloren. Der Haushalt von Marianne Weissensteiner ist ein gutes Beispiel dafür, wie es nach einer Trennung in den meisten Fällen weitergeht. Die 37-jährige Hebamme lebt mit ihren beiden Töchtern Luisa (11) und Aurelia (9) alleine in einer Wohnung am Bauernhof in Weyr, OÖ.
Wenn sie Dienst hat, läutet um 5.30 Uhr die Mutter an der Tür, um die Kinder zu übernehmen. Weissensteiner macht sich auf den Weg ins Krankenhaus. Nach der Schule bleiben die Töchter bei den Großeltern, die Hebammenschicht endet erst um 20.00 Uhr. Jedes zweite Wochenende sind die Kinder beim Vater.
Für Weissensteiner stellt sich nicht die Frage, ob es auch anders ginge: „Für den Vater meiner Kinder wäre es zu viel, wenn wir uns den Alltag aufteilen. Von der Schule abholen, kochen, in den Musikunterricht bringen – das würde ihn neben seinem Job organisatorisch überfordern.“ Auf die Frage, wie sie es schafft, antwortet Weissensteiner: „Ich bin’s gewohnt. Solange alles straff organisiert ist, funktioniert’s gut.“ Natürlich bleibe nur noch wenig Zeit für die eigene Entspannung, und spontan in die Sauna oder zur Gymnastik zu gehen, sei sowieso nicht möglich.
„Für den Vater meiner Kinder wäre es zu viel, wenn wir uns den Alltag aufteilen. Von der Schule abholen, kochen, in den Musikunterricht bringen – das würde ihn neben seinem Job organisatorisch überfordern.“
Was für Weissensteiner trotz der hohen Belastung gut passt und dank der tatkräftigen Mithilfe der Großeltern auch möglich ist, wäre für Xenias Mutter wohl kaum vorstellbar gewesen. „Meine Ex hat immer auch ihre Auszeiten gebraucht“, weiß Norbert Cuba, Xenias Vater, zu berichten.
Auch Anton Pototschnig glaubt, dass seiner Expartnerin die Erziehungsarbeit – trotz des Streits um die alleinige Obsorge – letztlich oft zu viel geworden sei. Dies habe sich nicht zuletzt in den vielen Auseinandersetzungen des Sohnes mit der Mutter gezeigt. Der mittlerweile pubertierende Schüler ist nach einem „Crash“ mit der Mutter vor einem Monat aus eigenem Antrieb zum Vater übersiedelt – auch gegen das gerichtlich festgesetzte Urteil.
Obsorge – ein ideologisches Minenfeld
Wer sich genauer mit Fragen der Obsorge und dem Wohnort des Kindes nach einer Trennung auseinandersetzt, merkt schnell, dass er oder sie sich auf vermintes Gebiet begibt – die Vorurteile auf beiden Seiten sind nach wie vor groß. Setzen sich am einen Ende der Skala Väter wie Anton Pototschnig dafür ein, den Alltag mit ihrem Kind zu teilen, kämpfen am anderen Ende Frauen darum, dass Väter sich überhaupt um ihre Kinder kümmern – denn, so sagt die Berliner Journalistin Christina Bylow, Autorin des Buches „Familienstand: Alleinerziehend. Plädoyer für eine starke Lebensform“: „Ein guter Vater kann nicht vom Gericht verordnet werden.“
In ihrem Buch beschreibt sie die Lebensrealität vieler Frauen, die sich – „erdrückt durch die Doppel- und Dreifachbelastung“ – auch finanziell kaum über Wasser halten können. Altersarmut sei die unausweichliche Folge für viele Alleinerzieherinnen, deren Expartner nur am Wochenende ihrer Betreuungsverpflichtung nachkommen. „Es sollte doch heute selbstverständlich sein, dass sich beide gleichermaßen um ein Kind kümmern“, lautet deshalb das Credo der Autorin.
Dabei nimmt sie auch die Politik und die Firmen in die Pflicht, die Teilzeitarbeit sowohl für Männer als auch für Frauen ermöglichen müssten. Im Endeffekt würden beide Geschlechter von einer geteilten Verantwortung profitieren, denn, so Bylow, „die Zeit mit einem Kind ist immer ein Geschenk. Viele Väter bedauern es später, wenn sie ihre Kinder nicht haben aufwachsen sehen. Es bleibt oft eine Fremdheit zwischen ihnen und den Kindern, auch wenn diese erwachsen sind.“
Trennung als Chance
Wäre es deshalb die beste Lösung, geteilte Betreuungszeit gesetzlich zu verordnen? Nicht unbedingt, denn jede Familie ist so individuell wie die Menschen, die sie ausmachen. Was für den einen passt, mag für die andere gar nicht stimmig sein. Es wird Kinder geben, die das häufige Pendeln problemlos verkraften, andere, die damit gar nicht zurechtkommen.
Und es wird immer auch Frauen und Männer geben, die – aus welchem Grund auch immer – gerne mehr als 50 Prozent der Zeit für ihre Kinder da sind. Wichtig ist vor allem, dass keiner an der Überforderung zerbricht oder sich ausgeschlossen fühlt. Judit Barth-Richtarz, die auch als Kinderbeistand bei Gericht arbeitet, weiß, dass „Kinder in jeder Familienform gut und gesund aufwachsen können, wenn die Eltern sich respektieren und kooperieren“. Ein Elternteil, der sich aufopfert oder über seine Kräfte geht, ist selten hilfreich – „Wenngleich diese Handlungsweise verständlich ist“, fügt die psychoanalytisch geschulte Beraterin hinzu.
Auch wenn ein Elternteil den Kontakt des anderen zum Kind einschränkt, hätte dies häufig durchaus nachvollziehbare Gründe. „In der Trennungssituation wird die ganze Identität erschüttert; viele halten die Liebe des Kindes dann für die einzige Stütze, die ihnen bleibt.“ Wer klammere und gegen den anderen Elternteil kämpfe, fühle sich häufig besonders einsam und schwach. Umso wichtiger sei es, die getrennten Eltern in ihrer Not zu sehen und zu stützen, meint Barth-Richtarz.
Heute weiß man, dass Kindern nach einer Trennung nichts mehr schadet, als jahrelange ungeklärte Situationen oder schwelende Rosenkriege zwischen den Eltern. Eine von allen Parteien gut verarbeitete Trennung ist der erste Schritt in eine neue Zukunft als zufriedene getrennt erziehende Eltern.
In Marianne Weissensteiners Fall konnten sich die Eltern auch ohne Beratung auf ein Modell einigen, das für alle passt. „Nachdem wir beide die Trennung verarbeitet hatten, konnten wir uns freundschaftlich begegnen“, sagt sie. Der Vater ihrer Töchter schaue öfter auf dem Nachhauseweg auf einen Kaffee vorbei – „Die Mädels lieben das“, fügt sie hinzu. Für Luisas Geburtstag wollen die Eltern mit der Tochter zum „Sportfreunde Stiller“-Konzert nach Wien fahren.
Alleine würde Weissensteiner sich das nicht zutrauen. „Wir unterstützen uns – auch finanziell.“ Wenn sie über ihre Trennung und die Auswirkung auf ihre Mädels nachdenkt, ist sie mittlerweile positiv gestimmt. Vor ein paar Wochen sagte ihre ältere Tochter Luisa zu ihr: „Weißt du, Mama, es war zwar nicht schön nach der Trennung, aber ich habe jetzt gelernt, dass es auch nach schlimmen Erlebnissen immer wieder schön werden kann.“
* Name geändert.
Erschienen in „Welt der Frau“ Ausgabe 12/14