London also, genauer gesagt dessen Nordwesten, der Stadtteil Willesden: Hier siedelt Zadie Smith die Geschichte einer Freundschaft im Laufe der Jahrzehnte an, hier ließ sie übrigens schon ihren Debütroman „Zähne zeigen“ spielen. Eine kleine Welt, in der sich die große spiegelt, so beschreibt die Autorin dieses „Pflaster“: Die ImmigrantInnen, die einst hier wohnten, können sich mittlerweile „ihr“ Viertel gar nicht mehr leisten und mussten wegziehen. Überlebenskampf also, Aufstiegsvisionen inklusive.
Wovon können hier die Teenager Leah, Natalie, Felix und Nathan träumen? Welche Ziele haben sie vor Augen, wenn sie ihre Hochhaussiedlung verlassen, Schulen besuchen, ihre Karrieren planen? Sie notieren sich selbst noch als Erwachsene Sätze, die sie in Zeitungen finden, im Radio hören und die immer irgendwie auch auf sie zuzutreffen scheinen: „Ich allein verfasse das Lexikon, das mich definiert.“ Auch so ein Satz, der gleich notiert wird, man könnte ihn einmal brauchen und sei es nur zum Trost, wenn man wieder einmal doch nicht dazu gehört.
Die pralle Sonne trödelt bei den Telefonmasten.
Eine der vier ProtagonistInnen, Leah, ist mittlerweile Mitte 30, sie ist gutmütig und lässt eine taumelnde, etwa gleichaltrige Frau ohne Argwohn in ihr Haus. Sie hat ein Gespür für Not, Armut, Hoffnungslosigkeit und Lügen. Immer wieder erkennt sie ihre tiefe Verbindung mit diesen fünf Quadratkilometern Londons, denen sie „so treu verbunden ist wie andere Leute ihrer Familie oder ihrem Vaterland“. Ihr Job, das Verteilen von Lotterieeinnahmen an karitative Einrichtungen, belustigt sie mitunter, ihre Freundschaft mit Keisha ist eine wichtige Konstante im Alltag.
Keisha nennt sich, seit sie ihren Aufstieg zur Rechtsanwältin geschafft, ihr neues Leben mit dem perfekten Mann und den nahezu perfekten Kindern ergänzt hat, übrigens Natalie. Leah trödelt, im Job ebenso wie in ihrem Leben: Sie ist die einzige Weiße, die in der NGO mit Kolleginnen aus Barbados, Pakistan und Trinidad Hilfsgelder verteilt und über deren Herkunft besser nicht nachdenkt. Natalie beneidet Leah um deren Ungezwungenheit, sie selbst steckt fest im Korsett der erfolgreichen Aufsteigerin, deren Kinder die Regeln des Kapitalismus noch nicht gelernt haben und daher nicht allein in ihren riesigen Kinderzimmern schlafen wollen.
Bei den feinen Essen im Hause von Natalie Blake werden nicht nur erlesene Köstlichkeiten gereicht, sondern auch höchst exquisite Gespräche geführt, wobei „individuell“ in jedem Satz mindestens einmal vorkommt: Individualität an Zitronentarte, das ist jener kritische Diskurs, den die AufsteigerInnen lieben. In London und anderswo. Auf- und Abstiege der einstigen Freunde, die einander vor gröberen Abstürzen bewahren und dennoch manchen Abgründen nicht entkommen können, bringen Dynamik in diesen tragisch-komischen Großstadtroman, der die Metropole von ihren Rändern her erzählt.
Zadie Smith: London NW.
Übersetzt von Tanja Handels.
430 S. Kiepenheuer & Witsch 2014.
ISBN 978-3-462-04557-4
Buchtipp zum Weiterlesen.
Sigrid Löffler: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler. München: Beck Verlag 2014.
Die renommierte Literaturkritikerin setzt sich mit Migrationsliteratur auseinander, deren Leitbegriff „Hybridität“ dem Kolonialdenken doch den Kampf ansagt und AutorInnen wie Salman Rushdie, Doris Lessing, Michael Ondaatje etc. auch in deren geografisch-politisch-kulturellen Koordinaten wahrnimmt und beschreibt.
Super, der neue blog mit Buchbesprechungen.
Bitte es wäre schön, wenn bei den Büchern die Seitenanzahl und der Preis angegeben sind.
Es würden mich auch Taschenbücher interessieren, die sind ja doch einiges billiger.
Immer gut hier vorbeizuschauen, besonders wenn man abends ziemlich geschafft ist,
machen diese Gedanken wieder Mut.