Die Familie Sander nennt man wohl „alteingesessen“, was aber nicht bedeutet, dass ihre Familienmitglieder zur Ruhe gekommen sind.
Bei den Sanders allein zu Haus
In diesen Roman einzusteigen, bedeutet auch, sich Zeit zu nehmen. Da kommt viel auf einen zu: das Schicksal der Einzelnen, das kollektive Schicksal der InselbewohnerInnen, der Suff der meisten Männer, die Kälte und die Einsamkeit, dazwischen peinlich saubere Fremdenzimmer und ordentlich dämliche TouristInnen. All das muss man erst einmal sitzen lassen. Dann hat man Zeit für die feine Charakterzeichnung, die Dörte Hansen so ausmacht: Da ist kein Strich plump oder zu dick aufgetragen, alles fein geplant, allem wird viel Raum und Zeit gegeben. Ich staune, wie viel man über diese schweigenden Menschen schreiben kann, wie viel sie doch sagen, wenn man sich die Zeit nimmt, sie zu beobachten.
„Sie alle sind die Nachkommen von Männern, die das große Frieren noch beherrschten: Grönlandfahrern, die auf Walfangschiffen in die Arktis segelten. Und etwas hat sich eingedrückt und auf sie abgefärbt, ist in sie eingesickert von diesen Schiffsjungen und Harpunierern, Steuermännern, Kapitänen, die jedes Jahr vom Frühjahr bis zum Herbst im Nordpolarmeer fuhren, ihre Kleider niemals trocken, ihre Körper niemals warm.“
Die Familie Sander lebt, redet aber nicht viel. Da ist etwa der Vater Jens, der auf seiner Vogelwarte lebt und von zu Hause ausgezogen ist, ohne von Trennung zu sprechen. Da ist zum Beispiel Hanne, eine typische Inselmutter, die ihren Gästen freundlich begegnete und sie verwöhnte – das Schimpfen sparte sie sich für den Winter und für ihre Männer auf. Die Gäste freuten sich und erkannten spät, dass sie doch nur TouristInnen blieben, niemals hier dazugehören würden. Hanne hat drei Kinder großgezogen: Der Älteste, Rykmer, säuft und hat sein Kapitänspatent verloren, die Tochter arbeitet im SeniorInnenheim und hat Angst vor der Liebe und der Jüngste, Henrik, will am liebsten für sich allein bleiben, Treibgut sammeln und vor sich hinträumen. Ja, auch der Inselpastor spielt seine Rolle und auch er lernt im Laufe des einen, so viel verändernden Jahres seine Lektion.
Die, die aus der Stadt auf die Insel „flüchten“ und die, die es nie geschafft haben, von der Insel wegzukommen, prallen hier aufeinander: Wohl saufen die Städter weniger, aber auch ihnen mangelt es an einer Perspektive. Sie trampeln auf den für sie vorgesehenen Pfaden, genießen Tee und Gebäck bei ihren PensionsbesitzerInnen, wie auch bei Hanne Sander, kommen aber an ihre GastgeberInnen nie nahe genug heran, um sie nach ihrem Leben auf der Insel zu befragen. Außensicht und Innensicht, das große Schweigen in den Familien und die Rituale am Hafen zeigen Seite für Seite wie sich die Strukturen verändern: dass TouristInnen ausbleiben, dass sich Menschen wie Landschaft verändern können.
„Eske war, seit Henrik weggeschwommen ist, nicht mehr im Wasser, einen ganzen Sommer nicht. Nach der Arbeit fährt sie immer noch zum Strand, geht an die Kaffeebar, isst ihr Rosinenbrötchen. Sitzt im Sand und möchte in die See und traut sich nicht hinein, weil sie sich vor der Tiefe fürchtet, vor dem Sinken auf den Grund.“
Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Roman nicht lesen:
viel Stille, Einsamkeit, bizarre Charaktere, Liebe in all ihrer Brüchigkeit, Vertrauen und Ausdauer, Sprachforschung, Wärme und Kontrolle im Miteinander, Rituale und Lust darauf, zu den von der Romanfigur Eske gefürchteten TouristInnen zu gehören.
Dörte Hansen:
1964 in Husum geboren, arbeitete nach ihrem Studium der Linguistik als NDR-Redakteurin und Autorin für Hörfunk und Print. „Altes Land“ (2015) war jener Roman, der sie bekannt machte, gefolgt von „Mittagsstunde“ (2018).
Dörte Hansen:
Zur See.
München: Penguin Verlag 2022
Christina Repolust
Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at
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