Die Ich-Erzählerin erfährt von ihrer Mutter, dass sie ein Wunschkind gewesen sei, diese Worte wiederholt sie an jedem Geburtstag. Auch die größere Schwester Anna war wohl ein Wunschkind. Aber warum wollte dann der Vater vor der Ich-Erzählerin „damit aufhören“?
Die Männer sind traumatisiert, die Frauen vererben ihren Krebs, die Babys schmatzen
Kleine Schwindeleien und große Lügen ziehen sich durch dieses Buch, eine Seite weiter bringt eine Frau namens Sofia ihr Kind zur Welt und hört vom Doktor: „Mischlingskinder sind eben die schönsten.“ Ihr Mann Emil wundert sich, warum Sofia mit dem Baby im Krankenhaus bleiben und so gar nicht nach Hause will. Sie hat einen Namen für die Kleine ausgewählt, Flora soll sie heißen. Das erinnert Emil jedoch an ein Waschmittel, man einigt sich auf den Namen Rosa.
„Sofia denkt nach. Sie streicht ihrem Baby über das Köpfchen. Es hat schwarzes Haar und dunkle Augen, wie seine Schwester. Eine schlanke, aber etwas zu lange Nase. Die gleiche Nase wie ihr eigener Vater. Das Baby schmatzt leise.“
Man muss genau lesen, darf sich keine Ablenkung erlauben, damit man in dieser Vielschichtigkeit von Familienkonstellationen und Geburten nicht den Überblick verliert: Vier Generationen mischen hier mit, geben ihre Gene und ihr Krebsrisiko, ihre Traumatisierungen und Verflechtungen an die kommenden Generationen weiter. So hat es bereits der traumatisierte Großvater getan, das weiß die Ich-Erzählerin.
Welche Sprache die Kinder sprechen dürfen, welche „gut“ und welche „nicht förderlich“ ist, entscheiden die Erwachsenen je nach Generation. Die Ich-Erzählerin führt ihre Leserinnen und Leser durch ihre Kindheit, erzählt von Erlebnissen zwischen dem 5. und dem 10. Lebensjahr, aber auch bei der Geburt war man schon dabei.
Der Roman endet mit einer weiteren Geburt, eine Pflegefachfrau fragt nach dem Namen des Babys. Die Ich-Erzählerin hat keinen parat, ist aber froh, dass es ein Mädchen ist. Tage später besucht sie ihre Eltern, ihr Vater hält die kleine Isa – ja, jetzt hat sie einen Namen!
„Ich rolle mich auf dem Sofa zusammen und schlafe sofort ein. Ich spüre noch, wie mein Vater mit einer Hand eine Decke über mich breitet, Isa auf dem anderen Arm. Meine Tochter schmatzt und mein Vater summt.“
Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Debütroman nicht lesen:
Familiengeschichte, Frauengeschichten, Porträts über mehrere Generationen und Kulturen, über starke Frauen, ihre Geburtssituationen, ihre Chemotherapie, ihr Durchhalten und ihr Vergnügen in ganz jungen Jahren.
Die Autorin:
1984 in der Schweiz geboren, zog 2017 nach Wien und studierte Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst sowie am Literaturinstitut Biel. Sie ist Verfasserin von Theaterstücken und Kurzhörgeschichten.
Bettina Scheiflinger:
Erbgut.
Wien: Kremayr & Scheriau 2022.
Christina Repolust
Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at
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