So viel gewohnt wie jetzt haben wir noch nie. Und dabei neue Gewohnheiten etabliert – und manche, wie das Autofahren, fast verlernt.
21 Tage braucht es angeblich, bis man eine Gewohnheit etabliert, manche reden auch von 30 Tagen, acht Wochen oder 66 Tagen. Diese Zahlen werden gerne hergenommen, wenn es um das Integrieren einer neuen Alltagstätigkeit geht. Sporteln, Zahnseide verwenden, Tagebuch schreiben oder auch morgens das Bett machen: Nach einigen Wochen regelmäßigen Tuns geht’s dann – fast – von selber. Auch ein Entzug dauert mehrere Wochen und klappt nicht von heute auf morgen.
Unser Körper und unser Geist brauchen also einfach eine gewisse Zeit um zu lernen, was wir Tag für Tag tun. Gewohnheiten brauchen Zeit.
Der Entzug von unserem gewohnten Alltag durch Corona war relativ abrupt, und jetzt nach ungefähr 40 Tagen haben wir uns notgedrungen an diese neue Realität gewöhnt. Irgendwie. An manches kann und will man sich gar nicht gewöhnen, vieles fällt schwer, anderes ist richtig schön und wird vielleicht so oder in anderer Form bleiben. An unsere ausgedehnten Frühstücke ohne Hetzerei habe ich mich gerne gewöhnt, auch an meine Morgenrunde im Wald, auch an die friedlichen Spielmomente, die ich nicht unterbrechen muss (und will). Ich hab mich daran gewöhnt, dass das Kinderzimmer samt Inhalt jetzt überall ist. An dieses Hybrid aus Arbeiten, Spielen, Schule am Vormittag kann ich mich aber nicht gewöhnen, wie bei allen „All-in-one“-Modellen klappt dann nämlich gar nichts von allem so richtig. Auch an die Isolation kann man sich gar nicht gewöhnen.
Dass es gar nicht so einfach ist, neue Gewohnheiten bei sich und anderen zu etablieren, zeigt die Vielzahl an Tagesstrukturplakaten, Stundenplänen, Speiseplänen, Bonuspunktsystemen, Erinnerungspost-its für die Bäder (Handewäschen!), die ich nächtens teils ambitioniert, teils aus einer gewissen Verzweiflung schreibe und an den Kühlschrank hänge.
Wie schnell man alte Gewohnheiten verlernt, weiß ich jetzt auch. Nach fünf Wochen habe ich zum ersten Mal das Haus für eine Fahrt in die Stadt verlassen – alleine! Die üblichen Handgriffe saßen nicht mehr. Nach Wochen im – sagen wir mal so – gemütlichen Look wusste ich kaum mehr, was ich vorher eigentlich angezogen habe, Autoschlüssel und Handtasche waren zunächst unauffindbar. Euphorisch stürzte ich mich in mein Abenteuer, gleichzeitig mit dem Gefühl, auf rohen Eiern zu gehen, wie nach einem langen Krankenhausaufenthalt. Wie manche ältere Leute redete ich etwas mehr als notwendig mit den Verkäuferinnen, zupfte an meiner Maske herum und wollte sie mir ständig abnehmen wie einen zu warmen Schal – und erinnerte mich: Das darf ich ja gar nicht! Ich badete regelrecht in den Gesprächen in der Buchhandlung, spazierte auf den leeren aber doch erleichternd vertrauten Straßen und kam danach wieder aufgetankt nach Hause. Aber den wichtigen Punkt auf der Erledigungsliste – Ersatz für die vielen löchrigen Socken – habe ich nicht erledigt. Aber was solls, an die kaputten Socken haben wir uns jetzt auch schon gewöhnt.
Julia Rumplmayr
lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen (5 und 7) in einem Haus mit Garten im Mühlviertel.
Nervenstatus: sonnig bis wolkig.
www.juliarumplmayr.at | www.linzerkind.at
Foto: Alexandra Grill