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09/24

Wissen, Weisheit und Vergessen

Wissen, Weisheit und Vergessen
Erich Fenninger (Hg.): Ich bin, wer ich war

Seit Sachbücher ihren Tabellen-Besserwisser-Charakter aufzugeben scheinen, lassen sie sich wie Geschichten lesen. Nur: Man lernt was dabei. Man weiß, dass man Realitäten liest, Fakten liest, die in Geschichten, in Lebensgeschichten nämlich, verpackt sind. Daher lese ich im vorliegenden Band viele Szenen, die an Arno Geigers „Der alte König in seinem Exil“ erinnern, weniger poetisch beschrieben, aber ähnlich dicht erlebt und wohl auch erlitten, im Sinne von mitleiden, erleiden und staunen.

Dass ich gleich nach den ersten zwanzig Seiten nun doch nachlese, wer Herausgeber Erich Fenninger ist, soll nur etwas über meine leserische – Wortneuschöpfung! – Neugierde aussagen: Er, der Erich Fenninger Mag. FH, DSA, war 1991 bis 2003 Geschäftsführer der Volkshilfe Niederösterreich, ist Organisationsentwickler und Experte für Sozialpolitik. Dagmar Fenninger-Bucher ist Sonder- und Heilpädagogik, verfasste den 2012 erschienen Roman „jetzt, wo sie fortgeht“. Menschen, die hier schreiben, kennen das Thema gut und wissen Nähe und Distanz gut auszubalancieren.

Von Seite 113 bis Seite 249 lesen sich die Porträts der Menschen mit Demenz wie kleine Romansequenzen, angesiedelt im echten Leben, mit Liebe erinnert, gesammelt und geschrieben. Man könnte sich also darauf einstellen, in dieses Land zu gehen oder auch Menschen dorthin zu begleiten. Das Land hat noch keinen Namen bekommen, es wird so viele Namen wie BewohnerInnen bekommen, aber man kann darüber reden. Auch über die Wut. Auch über die Trauer.

Beginnen wir also bei „Mathilde und Helmut“. Mathilde, 1928 geboren, lebte bis vor einem Jahr allein in einer im dritten Stock gelegenen Wohnung, ganz normal also. Helmut war das „quirlige Kind“. Hier geht es bereits mit dem Fotografen um das vorliegende Fotoprojekt, Mathilde Fanninger sagt gern „Wahnsinn! Helmut. Wahnsinn. Ein Buch. Helmut, warum hast du mir nichts davon gesagt.“ Mehr braucht es nicht, um Demenz zu erläutern, alle reden, Mathilde reagiert und frägt nach. Dann kommen „Isolde und Alois“ – alle Paare oder Partnerschaften haben ihre eigene Geschichte, eine lebenslange Liebe, auch mit Problemen. Ein Paar hat die Alkoholkrankheit des Mannes zwar nicht unbedingt „bewältigt“, ist aber zusammengeblieben, Vergesslichkeit wurde auf den Alkohol geschoben, aber es war anders. Man bleibt zusammen. Nun aber anders, die erwachsenen Kinder werden „eingeweiht“, erfahren erst jetzt von der Suchtkrankheit des zum Diakon geweihten und als solcher neben der Arbeit in der VOEST einst schwer arbeitenden Vaters.

Es begann damit, dass sie alle Namen verwechselte. Dann wusste sie nicht mehr, was sie gegessen oder bestellt hatte. Sie wollte nicht mehr putzen und nicht mehr kochen, auch zu ihrer Damenrunde ging sie nicht mehr. Sie konnte den Gesprächen nicht mehr folgen. Sie wollte nicht einkaufen gehen, vielleicht hatte sie Sorge, nicht heimzufinden.

Wie gesagt, Sachbücher sind die neuen Geschichtenerzähler. Sie haben ein Thema, das arbeiten sie in packenden Szenen mit viel Mitgefühl ab. Ohne Poesie geht es auch nicht: Beim Lesen nicht und auch nicht beim Leben. Vielleicht Poesie als Stück Pause erleben. Ach ja, Sachinformationen hat diese Sachbuch auch, echt hilfreich, sehr gut recherchiert und umfangreich.

 

Erich Fenninger (Hg.): Ich bin, wer ich war. Mit Demenz leben.
St. Pölten u. a.: Residenz 2014.

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  • Veröffentlicht: 20.05.2014
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