Aktuelle
Ausgabe:
Konsum
03/24

„Wir haben einen klaren Blick auf das Leben“

„Wir haben einen klaren Blick auf das Leben“

Irmgard Lehner ist Seelsorgerin, ihre Schwester Marlen Schachinger Literatin. Ein Austausch über die Geburtswehen beim Schreiben, die Arbeit für Menschen und die Akzeptanz der Endlichkeit.

Was Ihren beiden Berufen gemein ist, ist das Verfassen von Texten. Ich gehe aber davon aus, dass Sie unterschiedliche Zugänge zum Schreiben haben.

Irmgard Lehner: Ich verfasse Texte für Ansprachen bei Tauffeiern, Begräbnissen, für Predigten oder Gebete. Meine Texte schreibe ich mit der Hand, das ist ein innerer Prozess, für den ich Zeit und Raum brauche. Das geht nicht einfach schnell zwischen zwei Terminen. Ich bin eine sehr kontemplative Frau, meditiere täglich. Manchmal komme ich erst einmal eine Stunde lang zur Ruhe, bevor ich mit einem Text beginnen kann. Ich habe hohen Respekt vor diesem kreativ-spirituellen Akt.

Wie viel Zeit verbringt die Schriftstellerin mit Schreiben?

Marlen Schachinger: Immer. Es schreibt sich in mir. Ich kann das Denken ja nicht beurlauben. Es ist schon so, wie Irmgard es charakterisiert: Es braucht Zeit, um für sich und in sich zu sein, damit ein Werk entstehen kann. Zu Schreiben beschränkt sich nicht darauf, zu sitzen und eine Erzählung zu fertigen. Es ist mein „in der Welt sein“, meine Seinsform. Sagen wir es so: Ich brauche sehr viel Schlaf; und wenn ich nicht schlafe, schreibe ich.
Irmgard Lehner: Oder du bist im Garten!
Marlen Schachinger: Da schreibe ich in Gedanken, und es kann sein, dass ich den Spaten wegwerfe und ins Haus laufe, weil ich plötzlich den Satz weiß, den eine Figur sagen will, das treffende Wort für ein Erzählelement finde – und weiter schreibe.

Würden Sie sich und Ihre schriftstellerische Tätigkeit als spirituell bezeichnen?

Marlen Schachinger: Literatur, so wie ich sie sehe, hat durchaus eine seelsorgende Komponente. Ich glaube, dass Literatur die Aufgabe hat, unsere Welt zu reflektieren, die Auseinandersetzung der Menschen mit der Welt anzuregen. Dafür braucht das Schreiben viel Ruhe, Zeit, Behutsamkeit. Doch, in gewisser Weise ist das ein spiritueller Aspekt.
Irmgard Lehner: Ich habe das Gefühl, bei dir im Schreiben und bei mir in der Seelsorge geht es insofern um dasselbe, weil es um das Leben geht. So wie es ist, in aller Vielfalt, in aller Schönheit, in aller Zerbrechlichkeit. Das Leben ist etwas sehr Bedeutsames für uns, wir haben beide einen ­klaren Blick darauf, was Leben bedeutet, auch für andere. Wir haben beide ein gutes Gespür für Menschen, können uns gut in andere hineinversetzen. Unser Gottesbezug ist allerdings verschieden.
Marlen Schachinger: Ja, wir haben beide unsere Art und Weise gesucht, wie wir gut in der Welt sein können. Ich denke der Schriftsteller Mario Vargas Llosa hat recht, wenn er sagt: „Man ist nackt, wenn man zu schreiben beginnt, dann bemäntelt und bekleidet man und bildet etwas Neues daraus, fern von einem selbst.“
Irmgard Lehner: Diese Nacktheit empfinde ich auch immer wieder einmal, wenn ich Predigten schreibe oder Gedichte, die ich mit der Gemeinde oder für sie bete. Ich öffne mich durch meine Texte, stehe nackt und bloß vor meiner Gemeinde, zeige viel von mir. Ich will keine Sprachhülsen verwenden, etwas aus kirchlichen Büchern in einer Sprache, die nicht mehr die der Menschen heute ist. Ich will mich mit meiner Sprache zeigen. Für mich ist auch das eine Beziehungsmöglichkeit.

Sie haben gemeint, Ihr Gottesbezug sei ­verschieden. Was sagen Sie über Gott?

Irmgard Lehner: Ich meine, Gott ist eine Wirklichkeit, die sich in der Welt, im Leben, in den Menschen zeigt, die man spüren kann. Manchmal kann man sie auch nur erahnen. Mich interessiert diese Wirklichkeit sehr, und ich schaue, wo ich ihr nahe sein und die Beziehung zu ihr wachsen lassen kann.
Marlen Schachinger: Ich bin Agnostikerin, ich glaube nicht, dass man beweisen kann, dass es Gott gibt. An Irmgard schätze ich, dass sie das respektiert. Ich habe nie das Gefühl, bedrängt oder missioniert zu werden.

Haben Sie die Inspirationen zu Religion und Literatur auch aus Ihrem Elternhaus mitgenommen?

Irmgard Lehner: Ja, auf jeden Fall. Unser Vater ist laisierter Priester, das hat mit meiner Berufswahl sicher etwas zu tun – in diesen Spuren unterwegs zu sein, aber auf eine andere Art. Und Bücher hat es immer jede Menge gegeben.
Marlen Schachinger: Absolut! Ich habe immer schon Literatur verschlungen, und nie hat mich jemand ermahnt, dass es doch „Sinnvolleres“ zu tun gäbe. Auch unsere Mutter hat leidenschaftlich gerne gelesen. Für mich war das ein wichtiges Ritual: mit ihr in die Bibliothek zu gehen, in diesen wunderbaren Raum. Ich erinnere mich gut an eine von Mutters Jugenderzählungen, dass es das Schönste sei, irgendwo mit einem Buch zu liegen, zu lesen und dabei einen Apfel zu essen. Oder eine Semmel mit Schokolade! (Lacht.)

Sie beide richten sich mit ihrer Arbeit an Menschen. Sehen Sie da Parallelen?

Marlen Schachinger: Während des Schreibakts habe ich keine Leserin, keinen Leser im Blick, das würde eine kontraproduktive Instanz der Kontrolle öffnen. Doch bei den Korrekturen rücken sie bereits in den Fokus. Und bei Lesungen wird der Kontakt mit dem Publikum zentral: Habe ich das Gefühl, ich erreiche die Menschen, ich kann jemandem etwas mitgeben, so ist das schöner und motivierender als jeder Literaturpreis.
Irmgard Lehner: Mit Menschen im Gespräch zu sein, macht den größeren Teil meiner Tage aus. Manche kenne ich sehr gut, ich weiß, wo die Freude ist und wo gerade die Sorgen sind. Glaube, Spiritualität, das heißt für mich Beziehung zur göttlichen Wirklichkeit, aber auch zu dem Menschen, mit dem ich gerade in Kontakt bin. Ich will so da sein, dass Menschen berührt und gestärkt sind, dass die Freude mehr wird und man miteinander auch weinen kann.

Ich stelle mir das kräfteraubend vor.

Irmgard Lehner: Mich fragen die Menschen oft, gerade bei schwierigen Situationen, woher ich die Kraft nehme. Ich sage ihnen dann, dass das nicht meine Kraft ist, die sie da spüren. Das ist Gott, der wirkt. Das sage ich aber nur, wenn ich gefragt werde, ich möchte da nicht missionarisch sein. Ich gehe oft mit der Frage in mich: „Jesus Christus, was soll
durch mich gesagt und getan werden?“ Darum geht es für mich in der Seelsorge.

Zum Berufsbild der Schriftstellerin entwickelt man gerne die Vorstellung: Sie wusste schon immer, dass sie einmal schreiben würde! War das bei Ihnen so?

Marlen Schachinger: Tatsächlich, ohne es damals so formulieren zu können, war es für mich doch schon als kleines Mädchen klar. Begonnen habe ich damit, Geschichten zu erzählen, als ich etwa drei Jahre alt war. Ich erinnere mich gut an einen Campingurlaub: Es regnete stark, Irmgard und ich lagen in unserem Zelt, ich sehr beschäftigt, sie recht gelangweilt. Als ich ihr sagte, dass ich mir eine Geschichte erzähle, war sie perplex. Da erst ist mir klar geworden, dass das nicht „normal“ ist.

Und wann haben Sie zu schreiben begonnen?

Marlen Schachinger: Genau kann ich das nicht datieren. Mit zehn oder elf Jahren jedenfalls tippte ich einen Kriminalroman auf der alten Schreibmaschine meines Großvaters. Eines Abends fürchtete ich mich so entsetzlich vor der Szenerie, die ich entwarf, dass ich diese Mordgeschichte in der untersten Schublade begrub. Ich verlegte mich auf Lyrik: Die ersten Werke gingen an Irmgards Freundinnen. Ungemein motivierend war deren Feedback für mich. Auch das meiner Religionslehrerin, Sr. Kunigunde Fürst. Sie kommentierte eine Erzählung über Franziskus mit den Worten: „Toll, was du da machst. Das ist es wert, gelesen zu werden.“

Sie beide haben gemeinsam an der Präsentation eines „Requiems“ gearbeitet. Die Texte dazu sind in Zusammenarbeit von Ihnen, Frau Schachinger, mit Michael Stavaric und Markus Orths entstanden und in Buchform erschienen. Wie kam es zu dieser Idee?

Marlen Schachinger: Michael Stavaric und ich wollten eine Lesung für die Toten veranstalten. Das war damals noch ironisch und schalkhaft gemeint. Ich recherchierte und mir wurde bewusst, dass es keine literarische Auseinandersetzung mit der Form des Requiems gab. Das war der Auftakt.

Das Buch „Requiem. Fortwährende Wandlung“ fokussiert das Veränderliche allen Lebens und damit die Unausweichlichkeit des Todes. Ist das ein Thema, das Sie generell umtreibt?

Marlen Schachinger: Der Tod in allen Varianten, nicht nur als Ende des Lebens, beschäftigt mich seit langer Zeit: Wenn etwas in einem stirbt, wenn Zukunftsvorstellungen sterben, wenn sich Abschiede in Beziehungen ereignen, all das sind vorbereitende Varianten. Es ist die Brüchigkeit des Lebens, die mich fasziniert. Meine Auseinandersetzung mit der Thematik hat wohl damit zu tun, wie ich die Welt erlebe; ich nehme sehr viel Trauer wahr, die Verzweiflung der Menschen, ihre Existenzangst. Und mitten in dieser Welt eine unfassbare Schönheit!

Frau Lehner, Sie begleiten die Lesung mit Ritualen, die das Werden und das Vergehen symbolisieren. Welche Bedeutung hat Seelsorge für Sie im Zusammenhang mit dem Tod?

Irmgard Lehner: Seelsorge ist gerade dann eine kostbare Aufgabe. Ist man mit der Zäsur des Todes konfrontiert, wird ein Mensch gebraucht, der mutig mitgeht. Viele Menschen steigen ja aus, wenn sich im Umfeld ein Todesfall ereignet, sie haben Angst, etwas Falsches zu sagen. Das kann ich verstehen, denn der Tod ist ein großes Tabu. Genau dann bin ich als Seelsorgerin da, ich habe keine Angst davor. Mich berührt das tief, ich weine mit, aber ich fürchte mich nicht. Sterben ist ein heiliger Moment mit großem Frieden. Die eigene Sterblichkeit anzuerkennen, ist ein Prozess, der nicht ganz schmerzfrei ist. Damit verändert sich die Intensität des Lebens.

Damit rückt die Zeit ins Zentrum des Interesses. Wie haben Sie beide vor, Ihre Zeit zu nutzen?

Irmgard Lehner: Ich möchte immer noch mehr lieben lernen. Liebe als Haltung – dem Leben gegenüber, den Menschen gegenüber, dem gegenüber, was ist – das ist mir wichtig. Immer mehr die zu werden, die ich im Innersten bin. Denn ich glaube, dass dort das Glück liegt, mein eigenes und das der anderen. Und im Übrigen ist das Leben immer Überraschung. Man hat es nicht im Griff. Diese Offenheit möchte ich mir gerne bewahren.
Marlen Schachinger: Mich treibt Neugierde an: Jeder Moment ist anders, ist kostbar; mag er brüchig oder geschliffener Kristall sein. So vieles gibt es in unserer Welt noch zu betrachten, wahrzunehmen, darzustellen, so vieles, wovon ich erzählen will.

Irmgard Lehner (49, links im Bild) leitet die Pfarre St. Franziskus in Wels als Pfarrassistentin. Neben organisatorischen Leitungstätigkeiten ist es ihre Aufgabe, Menschen in schwierigen Lebenssituationen zu begleiten, kirchliche Feste zu gestalten und mit der Gemeinde zu feiern. Sie hat Theologie und Mathematik studiert und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Wels.

Marlen Schachinger (48) ist Literatin und künstlerische Leiterin des Instituts für Narrative Kunst. Die Literaturwissenschaftlerin ist Mutter dreier erwachsener Kinder und lebt im Weinviertel. Zuletzt publizierte sie 2018 „Requiem. Fortwährende Wandlung“, gemeinsam mit Markus Orths und Michael Stavarič, und 2016 den Roman „Martiniloben“. Beide Bücher sind im Septime-Verlag erschienen.

Marlen Schachinger

Ich bin …
… Literatin.

Denke ich an meine Kindheit, ….
… fallen mir Papas Reiseträume ein. Der Doppeldecker wurde zwar nie bestiegen, war mir aber immer präsent. Ich habe als kleines Mädel davon geträumt, zu solch einem Flugabenteuer aufzubrechen.

Meine Schwester Irmgard …
… war für mich in der Umbruchszeit der Pubertät ein fixer Anker. Ich wusste, ich konnte mich jeder Zeit auf sie verlassen, ein wunderbares Gefühl.

Irmgard Lehner

Ich bin …
… Seelsorgerin. Den Berufswunsch hatte ich schon mit 16 Jahren, weil ich etwas verändern wollte. Dieser Wunsch ist bis heute ein starker Antrieb.

Es liegt in meiner Natur …
… die Menschen im Blick zu haben und zu schauen, ob es allen gut geht. Das hat sicher auch damit zu tun, dass ich die älteste von vier Schwestern bin.

Eine meiner Kraftquellen ist …
… die Meditation. Dafür nehme ich mir jeden Tag Zeit, auch dann, wenn viel zu tun ist.

  • Teile mit:
  • Veröffentlicht: 14.01.2019
  • Drucken