Sunita Narain ist die einflussreichste Umweltaktivistin Indiens. Ihr Lieblingsumweltproblem? Die Luftverschmutzung. Deutschlands Autoindustrie-Hörigkeit? Erbärmlich. Großbritannien als Indiens Vorbild? Bloß nicht!
Sie ist eine gefragte Frau. Einfach ist es daher nicht, Sunita Narain zum Gespräch zu treffen. Fast unmöglich ist es, wenn Indiens Hauptstadt Neu Delhi mal wieder im Smog verschwindet. Dann ist sie als Krisenmanagerin im Dauereinsatz; zusammen mit der Regierung hat sie einen Smog-Notfallplan entwickelt. Ein Interviewtermin, über Wochen wieder und wieder verschoben, platzt: Sie muss zu einem Ministertreffen. Delhis Luft lässt sich kaum noch atmen, die Krankenhäuser sind voll, die Schulen geschlossen. Smog als Staatskrise. Narain schreit, schimpft, entschuldigt sich – der wenige Schlaf. Dann muss sie weg. Ein paar Tage später hat sich die Situation entspannt. Die Sonne ist wieder zu sehen. Narain empfängt uns auf der Dachterrasse ihres Büros, im „Centre for Science and Environment“ (CSE).
Frau Narain, der Smog hat Ihnen wohl noch mehr zugesetzt als anderen. Wie geht es Ihnen?
Sunita Narain: Viel besser. Ich konnte zum ersten Mal seit Wochen ausschlafen – zehn Stunden am Stück! Die Luft in Delhi ist wieder normal, das heißt: schlecht. Sehr schlecht. Aber sie schnürt einem nicht mehr bei jedem Atemzug die Kehle zu.
Sie sagen, die Luftverschmutzung sei Ihr Lieblingsumweltproblem.
Sie hat tatsächlich einen großen Vorzug: Jeder muss atmen. Ob arm oder reich. Indiens verschmutztes Wasser ist vor allem ein Problem für die Armen. Die Reichen kaufen Trinkwasser in Flaschen. Viele unserer Flüsse sind regelrechte Kloaken, aber ein Aufschrei wie beim Smog bleibt aus. Das zeigt: Ohne massenhafte Sorge um die eigene Gesundheit passiert gar nichts.
Sie haben kein sehr idealistisches Menschenbild.
So funktioniert die Gesellschaft leider. Das eigene Wohlergehen ist ein wichtiger Faktor, um unser Verhalten zu ändern. Vielleicht der einzige Faktor. Tabak ist ein klassischer Fall: Als den Leuten klar wurde, wie schädlich Rauchen ist, haben viele damit aufgehört. Das ist auch der Grund, warum wir uns mit dem Klimawandel so schwertun. Warum machen die USA nichts? Warum kommen die Europäer so schwer in die Gänge? Weil sie die Folgen noch nicht am eigenen Leib spüren.
Sie fordern von den Industriestaaten, sich ihrer historischen Verantwortung zu stellen: Weil sie jahrzehntelang zu viele Treibhausgase in die Atmosphäre gepustet haben, sollten sie die Emissionen nun radikal herunterfahren – damit Indien stattdessen mehr emittieren könne.
Sehen Sie, beim Klimawandel geht es nicht nur um Ökologie. Es geht auch um Ökonomie. Um Entwicklungschancen. Das wirtschaftliche Wachstum von Staaten ist noch immer an den Ausstoß von Treibhausgasen gekoppelt. Bis zu einer umfassenden Energiewende – für die wir alles tun müssen – wird das so bleiben. Es ist das gute Recht von Entwicklungsländern, jenen Teil der Atmosphäre, der ihnen zusteht, für sich in Anspruch zu nehmen. Sie ist schließlich ein gemeinsames Gut. Und dieses Gemeingut müssen wir gerechter untereinander aufteilen als bisher.
Wir fragen Narain, ob wir einen kleinen Spaziergang um den Block machen könnten, zur Hauptstraße, wo Staub- und Abgaswolken wabern und die Fahrbahn von Müllhaufen flankiert ist, in denen Kühe Papier und Essensreste mampfen. Das kommt für Narain nicht in Frage. Ein solches Bild von Indien möchte sie nicht verbreitet wissen. Denn neben Umweltproblemen bekämpft sie mit Vorliebe interkulturelle Klischees.
Unser Spaziergang führt also nur hinunter in den (sehr gepflegten) Garten des CSE-Gebäudes. Im Treppenhaus hängt ein Plakat, das den Industrieländern „CO2lonialism“ vorwirft, Kohlendioxid-Kolonialismus.
Deutschland sieht sich als globaler Energiewendevorreiter. Ist das ein korrektes Selbstbild?
Würde ich schon sagen. Was die Energieerzeugung angeht, glaube ich nicht, dass irgendein anderes Land auf der Welt mehr getan hat. Deutschland hat gezeigt, dass ein alternativer Weg möglich ist: Strom aus dezentralen, erneuerbaren Energiequellen, und zwar in einer Größenordnung, die wirklich einen Unterschied macht. Das sollte man nicht unterschätzen.
Wobei Deutschland Probleme hat, seine Klimaschutzziele zu erreichen.
Der gleichzeitige Ausstieg aus der Kohle- und der Atomenergie fordert natürlich seinen Tribut. Und es gibt auch Bereiche, in denen Deutschland alles andere als vorbildlich ist. Der Fleischkonsum ist ein Problem, die Art der Viehhaltung, die Menge an Fleisch, die jeder Deutsche verzehrt. Das hat Folgen für das Klima.
Das gesamte Interview finden Sie in der Printausgabe.
Zur Person
Sunita Narain, Jahrgang 1961, leitet das „Centre for Science and Environment“ (CSE) in der indischen Hauptstadt New Delhi, einen einflussreichen Thinktank für Umwelt- und Entwicklungsthemen mit mehr als 100 MitarbeiterInnen. Sie hat das CSE, das sich hauptsächlich durch Spenden und Fördergelder trägt, in den vergangenen 36 Jahren wesentlich mit aufgebaut. Narain berät Indiens Regierung in vielen Umweltfragen, zugleich übt sie öffentlich Kritik an Missständen. International bekannt wurde sie durch den Klimawandel-Dokumentarfilm „Before the Flood“, in dem Hollywood-Schauspieler Leonardo DiCaprio sie neben Barack Obama, Papst Franziskus und Ban Ki Moon interviewt. Das
US-Magazin „Time“ zeichnete sie 2016 als eine der „100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt“ aus.
Erschienen in „Welt der Frauen“ 12/18