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04-05/24

Sollten wir unser Leben nach dem weiblichen Zyklus ausrichten?

Sollten wir unser Leben nach dem weiblichen Zyklus ausrichten?
Foto: Adobe Stock

Der Menstruationszyklus beeinflusst das Leben von Frauen auf vielfältige Weise. Doch wie sinnvoll ist es, wenn wir nach den verschiedenen Zyklusphasen leben? Sind wir vor und nach dem Eisprung tatsächlich unterschiedlich belastbar?

Der Menstruationszyklus ist ein biologisches Wunder, ein komplexes Zusammenspiel aus Hormonen. Von der fein abgestimmten Freisetzung von FSH, LH, Östrogen und Progesteron über die Eireifung bis hin zur Vorbereitung der Gebärmutterschleimhaut für eine mögliche Schwangerschaft: In jeder Phase des Zyklus vollbringt der weibliche Körper Höchstleistungen. Damit gehen oft körperliche und emotionale Veränderungen einher. „Es ist vor allem die zweite Zyklushälfte, die uns Frauen häufig zu schaffen macht: PMS, verursacht durch das steigende Progesteron“, erklärt Gynäkologin Eva Lehner-Rothe. Die Auswirkungen des prämenstruellen Syndroms variieren von Frau zu Frau unterschiedlich – in ihrer Intensität wie auch in ihrer Symptomatik. Bekannt sind mehr als 150 Beschwerden. „Die häufigsten: Blähbauch, Unterleibsschmerzen, Durchfall oder Verstopfung, Brustspannen, Heißhungerattacken.“

Leistung nach Zyklus

Für die Medizinerin ist klar: „Unsere Leistungsfähigkeit variiert je nach Zyklusphase. Dominiert das Progesteron, ist der Körper schwerer, lagert mehr Wasser ein und fühlt sich aufgeschwemmter an als etwa kurz nach der Regel.“ Für sie macht es durchaus Sinn, dies in bestimmten Lebensbereichen zu berücksichtigen, etwa im Leistungssport. „Praktisch ist es natürlich kaum machbar, weil Bewerbe nun mal an einem bestimmten Datum stattfinden, unabhängig davon, wo die Sportlerinnen sich in ihrem Zyklus befinden. Im Training aber kann es durchaus Sinn machen, die jeweiligen Phasen im Überblick zu haben. Zumindest lassen sich Leistungsschwankungen so oft auch besser erklären.“ Dem Ganzen zu viel Gewicht zu geben, ist in ihren Augen dennoch nicht notwendig.

„Wir sind keine Marionetten unserer Hormone.“
Lars Penke

Sexuelles Interesse

Auch Psychologe Lars Penke, der die Auswirkungen des weiblichen Zyklus an der Universität Göttingen untersucht hat, stimmt zu: „Viele Studien dazu liefern keine wirklich nachweisbaren Effekte. Wofür es Evidenz gibt: Dass der natürliche Zyklus mit unserem sexuellen Interesse zusammenhängt.“ Penkes Studienergebnisse stimmen überein mit den Erfahrungen, die Psychotherapeutin Tanja Tschuchnigg im Laufe der Jahre in ihrer Arbeit gemacht hat: „In der zweiten Zyklusphase investieren Frauen weniger ins Außen, mehr in sich selbst. Was sich außerdem mit den unterschiedlichen Phasen des Zyklus verändert, ist, wie attraktiv sich Frauen selbst fühlen. Rund um den Eisprung sind sie mit ihrem Aussehen zufriedener als sonst.“ Penke betont aber auch: „Wir sprechen hier von Tendenzen. Wir sind keine Marionetten unserer Hormone. Man kann das mit unseren Stimmungen vergleichen: Nur weil wir gerade etwas gereizter sind als sonst, fangen wir auch nicht automatisch mit jedem einen Streit an.“

„Es ist wichtig, dass wir Frauen und unsere Weiblichkeit in der Gesellschaft vermehrt thematisiert werden.“
Eva Lehner-Rothe

Ein Hoch auf die Individualität

Studien zeigen aber auch: Etwa 75 Prozent der Frauen klagen über Beschwerden, die dem Zyklus geschuldet sind. „Ich hatte eine Frau in meiner Praxis, die aufgrund von PMS schwer depressiv war und in der Zeit auch tatsächlich nicht arbeiten gehen konnte. Die einzige Lösung, die wir für sie gefunden haben, war die Pille. Die reguliert die extremen Auf und Abs“, erzählt Gynäkologin Eva Lehner-Rothe aus ihrem Praxisalltag und weiß aber auch: „Die Intensität, mit der Patientinnen den Zyklus wahrnehmen, schwankt enorm und ist individuell.“ Jeder Zyklus ist anders (auf nur vier Prozent aller Frauen trifft der 28-tägige Standardzyklus zu!), jede Frau ist anders – ein Patentrezept zum richtigen Umgang mit unserer Weiblichkeit gibt es nicht. Das, was der einen guttut, muss der anderen nicht dienen. Was manche intensiv wahrnehmen, zieht an anderen oft spurlos vorbei. „Es ist wichtig, dass wir Frauen und unsere Weiblichkeit in der Gesellschaft vermehrt thematisiert werden, ein offener Umgang mit all den Themen, die einhergehen, ebenso.“

Der Markt für Zyklusseminare und -Coachings wächst. Kann man machen, muss man aber nicht, so die Meinung der Expertin: „Wer seinen Körper, seine Psyche und seinen Zyklus eine Zeit lang genauer beobachtet, kann Muster von Stimmungsschwankungen, Energielevels und körperlichen Symptomen besser einordnen.“

„Eine achtsame Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse und Abgrenzung gegenüber Stressoren kann in der Zeit vor der Blutung hilfreich sein.“
Tanja Tschuchnigg

Der nährende Charakter der Gruppe

Ohne eine gewisse „Anleitung“ gelingt die Auseinandersetzung mit sich selbst aber nicht allen. Oft geht es in Workshops auch genau darum: sich selbst gegenüber wieder achtsamer werden, seine Individualität zelebrieren. „Für eine tiefere Verbindung zu einem selbst“ oder „für alle Frauen, die sich besser kennen und lieben lernen möchten“ liest man auf den jeweiligen Websites. Psychotherapeutin Tanja Tschuchnigg sieht einen Vorteil in diesen Gruppenevents: „Wir sind soziale Wesen und Workshops bieten einen sicheren Raum, sich in Gemeinschaft selbst auf kreative Art und Weise näherzukommen und offene Gespräche in einer Schwesternschaft zu führen. Das Gefühl der Verbundenheit zu den anderen Frauen hat einen nährenden Charakter für viele. In der Gruppe profitieren die Frauen untereinander von diesem geschützten Austausch und den unterschiedlichen Erfahrungen.“ Sie selbst berücksichtigt bei ihrer Arbeit mit Patientinnen „das Wissen rund um den weiblichen Zyklus und dessen Qualitäten“. Denn: „Es gibt Phasen, in welchen Rückzug, Ruhe, Selbstfürsorge und Abgrenzung an Bedeutung gewinnen, um dann in der eigenen Kraft voll da zu sein. Falls passend und geeignet, orientiere ich mich bei der Auswahl der Interventionen deshalb an den jeweiligen Phasen. In der Zeit vor der Blutung etwa können sich Traumata und Ängste intensivieren und Überhand gewinnen. Vor allem eine achtsame Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse und Abgrenzung gegenüber Stressoren kann zu dieser Zeit hilfreich sein, sodass einen die eigenen Emotionen nicht überfordern.“

Worin sich die drei ExpertInnen einig sind: Es ist sinnvoll, dem eigenen Körper mehr Achtsamkeit zu schenken und entspannt zu bleiben, wenn wir nicht in Bestform sind. „Im Alltag sind wir meistens darum bemüht, zu funktionieren, packen unsere To-do-Listen so voll, dass wenig Spielraum für Pausen bleibt. Die brauchen wir aber, mal mehr, mal weniger“, so Lehner-Rothe, „und wenn wir wissen, was in uns passiert, fühlen wir uns plötzlich auch nicht mehr so ausgeliefert. Sich selbst gut zu kennen, war noch nie ein Nachteil.“

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  • Veröffentlicht: 30.04.2024
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