Bücher erscheinen und fragen nicht lang, ob sie thematisch gerade passen. „Freunde. Was uns verbindet.“ ist so ein geniales Buch, das wir gerade jetzt brauchen, weil wir unsere Freundinnen und Freunde vermissen. Weil wir mit manchen vielleicht seit einigen Wochen wieder telefonieren, weil wir verstanden haben, warum wir uns vielleicht einmal nicht mehr so gut verstanden. Nehmen wir uns die Zeit, über uns und unsere Freund*innen nachzudenken. Kaufen wir, wie diese geniale Autorin, doch einfach eine Gästematratze, legen wir ein Gästehandtuch noch dazu und überlegen wir, wen wir, wenn wir es wieder dürfen, zu allererst einladen.
Freunde – Menschen, bei denen man sein kann wie man ist
Heike Faller macht es einfach. Schreibt einfach auf eine leere Buchseite das Adverb „irgendwann“. Und schon dann steigt man ein in ihr Buch, folgt ihr und dem kongenialen Valerio Vidali Doppelseite um Doppelseite. „Irgendwann in einer Galaxie namens Milchstraße unter all den Sternen zwischen all den Menschen haben du und ich uns irgendwie getroffen. Zählen Sie die Doppelseiten, nehmen Sie sich Zeit: Ja, das haben wir einmal. Ich bin noch immer ich, wo bist du und du und du?“ Doppelseite um Doppelseite erleben wir Sequenzen von Freundschaft – beim Wandern, beim Tanzen, am Morgen, am Nachmittag, in einer Bibliothek, beim Reisen. Und dann kommen so Sätze wie: „Ich gebs zu, eine Zeit lang fand ich dich langweilig.“ Solche Erkenntnisse sind Schätze, das gesamte Buch ist eine einzige Schatzkarte: Ja, da nervte die Freundin. Da wäre man lieber allein geblieben. Vielleicht ist die Freundin, ist der Freund ja auch weggezogen.
Da steht die leere Bank einfach so da, über die Doppelseite gezogen, keiner sitzt drauf, keiner kommt und keiner ging weg. „Oder warst einfach nicht da“ – so wenig Wörter und so ein tiefer Schmerz, mehr als ein Schulterzucken, irgendwo in einem zieht es, ja, das ist Schmerz!
Manche Seiten lässt Valerio Vidali weiß, beinahe weiß natürlich, eine Bank zeichnet er uns schon hin, mitten rein ins Herz! Dann kommen detaillierte Zeichnungen, wir lieben diesen Rhythmus, einmal nur die zwei Freund*innen im Bild, dann wieder die Umgebung, die wir teilen, in der wir uns verlieren, aber auch wieder finden können. Uns finden, die andere, den anderen finden können.
„Mit jedem Jahr bedeutest du mir mehr.“
Dieses Bilderbuch für Erwachsene, diese illustrierten Gedanken will man gar nicht auf einmal lesen, schnell durchblättern. Nein, man lässt sich Zeit, Freundschaften wachsen ja auch langsam. Das Ungesagte bekommt hier seinen hohen Stellenwert, das Verborgene eine Doppelseite, kein Klischee muss hier bedient oder besungen werden. Man lehnt sich an den Buchrücken, wippt mit dem Kopf und weiß: Jetzt beginnt ganz großes Kopfkino. Irgendwann, irgendwo – das wollen wir jüngeren Menschen, Kindern doch sofort Doppelseite um Doppelseite erzählen. Und die Schachtel mit den alten Fotos, die holen wir gleich mit dazu! Oder, weniger haptisch, die aus dem Handyspeicher! Stoßen wir mit einem Zitat Heike Fallers jetzt einfach an:
„Auf alle Freundschaften, die flüchtigen, die lebenslangen, die, aus denen Liebesgeschichten wurden und die, die wir uns nicht getraut haben, zu retten.“
Was Sie versäumen, wenn Sie dieses wunderbare Buch nicht lesen
Erinnerungen an alte Freund*innen, das Gefühl, einmal ganz und gar verstanden worden zu sein, erkannt worden zu sein, Witz, Humor, die Erkenntnis, dass man sogar bei Gymnastikübungen Freund/Freundin sein kann, Differenzierung, Autonomie, Erinnerungen daran, wie weit man miteinander als Freund*innen gehen kann – halt alles, was uns freut, halt alles, wofür wir auch verzichten, alles halt, wonach wir uns sehnen.
Die Autorin Heike Faller
ist Redakteurin der „Zeit“, hat mit ihrem Buch „Hundert“ nicht nur alle Erwachsenendbildner*innen begeistert, auch alle, die gern lernen, die an Weiterbildung und –entwicklung glauben. Die ist ganz toll und – so steht es in ihrem neuen Buch – hat sich gerade eine Gästematratze gekauft. Genau, damit ihre Freund*innen nicht mehr auf dem Sofa schlafen müssen.
Der Illustrator Valerio Vidali
hat bereits bei „Hundert“ mit Reduktion und Konzentration auf das Wesentliche so richtig geglänzt! Ja, er ist preisgekrönter Illustrator und Bilderbuchmacher, kein Buchmacher, nicht falsch verstehen! Sonst sind wir hier keine Freunde mehr. Sein Blick aufs Wesentliche ist eine Steilvorlage – auch fürs Leben.
Heike Faller (Text), Valerio Vidali (Illustration):
Freunde
Was uns verbindet.
Kein & Aber Verlag 2020.
Christina Repolust
Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at
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