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10/24

Was mir das Wasser neulich offenbarte

Was mir das Wasser neulich offenbarte
Foto: AdobeStock

Was eine Gebirgssee-Freundschaft ist, warum sich Eltern-Kind-Beziehungen wie Wildwasser-Rafting anfühlen und was ich vom Wasser über Zwischenmenschliches lerne.

Nach dreieinhalb Stunden wandern, endlich raus aus den Bergschuhen. Ich stecke meine Zehen mit einem erleichternden Seufzer in den kühlen Gebirgsbach. Während ich mich „Herrlich ist das!“ sagen höre, wird das Wasser um meine Füße auch schon so kalt, dass es sich plötzlich anfühlt, als ob feine Nadelstiche bis in mein Gehirn hinaufziehen. Kann man es mir einfach nicht recht machen? Während ich meine erschöpften Glieder tollpatschig über die rutschigen Flusssteine zum Ufer bewege, um dem Schmerz ein Ende zu bereiten, denke ich nach.

An Gegensätzlichkeit schwer zu überbieten

Es gibt nichts Schöneres als ein erfrischendes Bad in einem See, die Abkühlung nach dem Sportprogramm im Pool oder die angenehme Reinigung nach einem langen Arbeitstag unter der Dusche. Mein erster Weg nach einem Urlaub im Süden führt zuhause meist direkt zum Wasserhahn, wo ich mir ein Glas erstklassiges Leitungswasser gönne. Die Dankbarkeit darüber ist jedes Mal wieder grenzenlos. Der bloße Anblick eines schönen Gewässers bringt mich auch nach dem tausendsten Mal ins Schwärmen. Ganz ehrlich, den Traunstein aus dem Traunsee herauswachsen zu sehen – egal ob vom Rathausplatz Gmunden, vom Gipfel des Sonnsteins oder nur aus dem Auto auf der B145 beim Vorbeifahren –, das entlockt mir zumindest in Gedanken immer wieder ein „So schön hier“.

Meine Zehen haben sich wieder vom eisigen Gebirgsbach erholt und wir gehen die letzten Meter zurück auf der Forststraße. Da fällt mir ein, dass Wasser auch ganz anders sein kann. Es ist zwar der Ursprung allen Lebens, kann aber trotzdem bedrohlich oder sogar lebensgefährlich werden. Wenn anhaltende Regenfälle ganze Siedlungen ertränken, überschwemmte Flüsse alles mit sich reißen, was links und rechts von ihnen liegt, oder wenige Zentimeter tiefe Planschbecken ein unbeaufsichtigtes Kind in Gefahr bringen, zeigt sich seine grausame Seite.

Es ist schon eigenartig, welche unterschiedlichen Gefühle diese farb- und geruchlose Flüssigkeit in mir hervorrufen kann. An Gegensätzlichkeit ist Wasser nur schwer zu überbieten. Beziehungen könnten es aber noch am ehesten mit dieser Ambivalenz aufnehmen, wie ich finde. Auch meine zwischenmenschlichen Verbindungen können all das sein. So erfrischend und belebend wie ein Gebirgsbach, so wohltuend und nährend wie das kühle Glas Leitungswasser nach dem Urlaub oder so schön und wundervoll wie See und Berg nebeneinander. Gleichzeitig erlebe ich auch, dass Beziehungen wehtun können wie das eisige Wasser an meinen Zehen, bedrohlich sein können wie ein reißender Fluss und für manche sogar tödlich enden können.

Beruhigender Gebirgssee, lauschiger Fluss oder doch trauriges Rinnsal?

Zurück zum Leben. Mittlerweile sind wir am Heimweg im Auto, für uns es geht noch zu einer Familienfeier. So ein Zusammenkommen der Eltern mit uns fünf Schwestern samt Kind und Kegel gleicht einem Whirlpool. Sprudelnd lebendig, irgendwie überschäumend und doch entspannend. Es gibt meist einen stabilen Rahmen, an den man sich bequem anlehnen kann. Wenn man allzu lang drinsitzt, gibts jedoch mindestens schrumpelige Finger, vielleicht eine Blasenentzündung oder Hautausschlag. Was der Whirlpool für das Bindegewebe, ist meine Familie für mein Bindungsbedürfnis: eine Wohltat mit sehr positiver Wirkung und etwas, das mich nährt und lebendig hält. Gleichzeitig tut es mir gut, immer wieder Distanz zu schaffen. Meinungsverschiedenheiten, persönliche Angriffe und die unausweichliche Nähe, die Familie auch mit sich bringt, können schnell zu Seuchen dieses Gewässers werden. 

Zwei Stunden später sitzen wir gemütlich bei der Feier aller Juni-Geburtstagskinder. Das sind in unserem Clan ganze sechs Personen. Den Papa schummeln wir immer dazu, obwohl er am letzten Maitag geboren wurde. In Großfamilien muss man auch ein bisschen pragmatisch sein. Das Feuer brennt fürs Knackergrillen, das Stockbrot ist fertig gewickelt und reichlich Salat aus den eigenen Hochbeeten steht auch bereit. Wir stoßen an und lassen unsere Beine in den Schwimmteich hängen, bis das Essen fertig ist.

„Ich fange an, alle möglichen Beziehungen meines Lebens in Form eines Gewässers einzuordnen.“

Noch einmal kommt mir die Ähnlichkeit von Wasser und menschlichen Beziehungen in den Sinn. Da ich sehr bildhaft denke, fange ich sogleich an, alle möglichen Beziehungen meines Lebens in Form eines Gewässers einzuordnen. Die Beziehung zu meiner Freundin: wie ein glasklarer beruhigender Gebirgssee, in dem sich die Schönheit der Welt spiegelt. Eltern-Kind-Beziehungen empfinde ich eher wie Wildwasser-Rafting: Da muss man sich ordentlich anschnallen. Meine Partnerschaft: ein ursprünglicher, lauschiger Fluss mit kleinen Stromschnellen, welche die darunterliegenden Steine perfekt zur Geltung bringen und das Sonnenlicht aufregend reflektieren.

Ich kenne aber auch ganz anderes. Die Beziehung zu meiner Internatsschwester von damals war ein Tümpel voll Gift. So manche Lehrer-Eltern-Beziehung war ein ausgedörrtes, trauriges Rinnsal. Und eine bestimmte Freundschaft aus Jugendjahren fühlte sich an wie die Donau, die sich drei Zentimeter unter dem Hochwasserschutz vorbeiwälzt: fast nicht zum Aushalten. Es hat auch nicht gehalten. Die Freundschaft, nicht der Hochwasserschutz.

Was ich mir vom Wasser Gutes für zwischenmenschliche Beziehungen abschauen kann?

  • Je natürlicher und unverfälschter, desto besser.
  • Es läuft nicht immer gleich gut, aber lebendig sollte es bleiben.
  • Wenn ich Mauern aufbaue, um zu überleben, läuft im großen Ganzen etwas falsch.
  • Ich darf darin baden und mich wohlfühlen, sollte meine Fäkalien aber nicht darin loswerden.
  • Die perfekte Temperatur ist für jede/n anders.
  • Ich überlebe auch, wenn es ein Weilchen zu kühl oder zu heiß ist.
  • In der Tiefe liegen oft die wahren Schätze.
  • Es fließt – sanft und doch sehr bestimmt, weich und doch unendlich kraftvoll, weil es überall hinkommt.
  • Vieles ist so lange eine Selbstverständlichkeit, bis wir es plötzlich nicht mehr haben.
  • Wertschätzung schadet daher nie.

Apropos schaden.

In diesem Moment werde ich aus meinen Gedanken gerissen. „Tus ja nicht!“ Der Schrei meiner Schwester katapultiert mich zurück ins Jetzt. Mein Schwager, das ewige Kind, nimmt gerade von der anderen Seite des Teichs Anlauf und bereitet sich mit breitem Grinsen im Gesicht vor. Auf den Paketsprung, den er ins Wasser machen will, um uns Frauen am gegenüberliegenden Ufer ordentlich zu taufen. Ob er gesprungen ist? Das werde ich an dieser Stelle nicht verraten. 

Nur so viel sei gesagt: Wasser ist herrlich. Wenn es zur richtigen Zeit am richtigen Ort das Richtige gibt oder das Richtige nimmt.

Foto: Marie Bleyer

Kerstin Bamminger

Psychologische Beraterin, Elementarpädagogin & Supervisorin

Web: kerstinbamminger.com
Mail: [email protected]
Instagram: @die.beziehungsweise

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  • Veröffentlicht: 01.08.2023
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