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Was man sieht und was man wahrnimmt

Was man sieht und was man wahrnimmt

Wer auf Kirmi-Spannung hofft, wird enttäuscht. Wer mit geschliffenen, eleganten Sätzen rechnet, wird ebenfalls enttäuscht. Alles andere ist aber wunderbar in diesem frühen „Mankell“, der jetzt endlich auch ins Deutsche übersetzt ist. Da sind zwei junge Menschen, Stefan reich, verwöhnt und arrogant, Elisabeth, schüchtern, arm, suchend und verwundbar: Ausgerechnet am Flughafen treffen sie sich wieder, haben sogar ein gemeinsames Reiseziel, ehrlich, das kann nicht gut gehen.

Elisabeth will mehr über sich wissen, ist lange genug wegen ihrer behinderten Schwester ausgegrenzt worden: Afrika, da könnte sie mehr über sich erfahren, einfach Ruhe haben. Jetzt sitzt Stefan, der Schnösel neben ihr, raucht und säuft! Klar, sie wohnen in unterschiedlichen Hotels, Stefan gibt das Geld seines Vaters aus, Elisabeth hat sich die Reise selbst finanziert. So die Blickwinkel der beiden jungen Schweden und jetzt das Land. Nein, vergessen wir den jungen Lehrer nicht, der Elisabeth aufgrund seines epileptischen Anfalls auffiel, schon wieder wer, der Hilfe braucht!

„Und da, mitten in dieser Menschentraube, wurde Elisabeth traurig. Das alles war zu verwirrend. Ein einziges Durcheinander. Sie war müde, es war zu warm, aber vor allem fühlte sie, dass sie die Situation nicht unter Kontrolle hatte. Am liebsten hätte sie sich irgendwo verkrochen. Oder sich spontan in eine Schar von Mitreisenden gedrängt. Mitten hinein, umringt von einem kleinen Wald aus dänischen Touristen. (S. 29)“

Stefan setzt auf Urlaub, Sand, Strand, Meer und Sex, Alkohol und so viele Abenteuer wie er kriegen kann. Elisabeth lernt Leute kennen, versucht, deren Sicht auf Schweden und auf Weiße generell zu verstehen. Wie groß ist die Armut, wie groß der Hunger – was weiß sie überhaupt von bzw. über Afrika?

Die beiden Protagonisten kehren zurück, erinnern sich an das Erlebte, das Vermiedene, das Leben, das sie nur kurz kennenlernten: Elisabeth ist Hausmeisterin in einer Bibliothek, Stefan der Schnösel geblieben, der er immer war. Doch kurz könnte es auch anders gehen, er blickt Elisabeth nach, wie klein sie doch ist!
Das ist der Reiz dieses Bandes, diese verpassten Möglichkeiten, mutig anders zu werden, sehr mutig auszusteigen, ganz mutig neue Wege zu gehen. Elisabeth wird es schaffen, sie hat die Chance genutzt, Stefan konnte seine Möglichkeiten nicht erkennen. Nein, er muss uns nicht leid tun.

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch – den ersten Afrika-Roman Mankells – nicht lesen: eine Geschichte, die in einer Zeit spielt, in der man im Flugzeug noch rauchen durfte, eine Reise in die Vergangenheit, eine Coming-of-Age-Geschichte, einen Abriss der Entwicklung zweier junger Menschen vor dem Hintergrund ihrer Afrika-Reise, völligen Verzicht auf Romantik, Sehnsucht, den eigenen Blickwinkel noch häufig zu verändern.

Henning Mankell, (1948 – 2015) lebte als Autor und Theaterregisseur in Schweden und Maputa; mit seinen Kriminalromanen um Kommissar Wallander erreichte er Weltruhm, seine „stilleren“ Texte wie „Was es heißt, ein Mensch zu sein“ und „Die schwedischen Gummistiefel“ zeigen poetische Tiefe, Melancholie und ergänzen so posthum das Oevre Mankells.

Verena Reichel, Jahrgang 1945, mehrfach ausgezeichnete Übersetzerin.

Henning Mankell:

Der Sandmaler.

Roman.

Aus dem Schwedischen von Verena Reichel.

Wien: Zsolnay Verlag 2017.

155 Seiten.

Christina Repolust

wurde 1958 in Lienz/Osttirol geboren. Sie schloss das Studium der Germanistik und Publizistik in Salzburg ab. Seit 1992 ist sie Leiterin des Referats für Bibliotheken und Leseförderung der Erzdiözese Salzburg und unterrichtet nebenbei Deutsch als Fremdsprache. Zudem leitet sie Literaturkreise und Schreibwerkstätten für Groß und Klein. Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.“

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  • Veröffentlicht: 22.11.2017
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