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Was ist Kreativität, Frau Klell?

Was ist Kreativität, Frau Klell?
Foto: Bela-Photography

Warum kann das Absolvieren von zu vielen Ausbildungen ein Hindernis für kreative Lösungen im Berufsleben sein? Und weshalb hilft es, manchmal wie eine Amöbe zu denken oder Sauergurken zum Frühstück zu essen? Das verrät Inspirationscoachin und Autorin Christine Klell im Interview.

Frau Klell, Sie waren früher in ihrem Beruf als Grafikdesignerin oft frustriert und unzufrieden mit kreativen Ergebnissen. Sie beschreiben es als Gefangensein in der eigenen Gedankenwelt und als Fehlen neuer Denkhorizonte. War das für Sie der Anlass, sich zunächst selbst aus dieser Situation zu befreien und Ihr Wissen schließlich in einem eigenen Buch zu teilen?

Ich sehe mich gerne als Lösungsfinderin. Als ersten Schritt wollte ich mir aber selbst Wege eröffnen, um leichter, ohne Stress und Druck, Ideen zu entwickeln. Erst im zweiten Schritt dachte ich daran, ein Buch darüber zu schreiben. Zu wissen, wie Kreativität funktioniert, halte ich für eine wichtige Ressource. Je mehr Möglichkeiten man hat, je größer die Denkräume sind, desto eher findet man auch ungewöhnliche Lösungen, die im Beruf zu neuen Erfolgen führen oder helfen, Blockaden zu überwinden.

Es gibt zahlreiche Definitionen von Kreativität. Was verstehen Sie darunter?

Kreativität hat für mich nicht unbedingt etwas mit künstlerischem Ausdruck in Farben, mit Makramee oder Häkeln zu tun. Es ist ein sehr weiter Begriff. Ich verstehe ihn so, dass man damit Brücken zwischen dem, was möglich und dem, was „nicht erlaubt“ ist, bauen kann. Alle gesellschaftlichen Strukturen sind von Menschen gemacht. Das heißt, wir können sie auch wieder verändern. Zu erkennen, wie es „immer schon gemacht wurde“, und dann neue Wege zu gehen – das ist Kreativität. So entstehen neue Formen des Zusammenlebens, neue Umgangsformen im Arbeitsalltag und neue Methoden, um das Dasein in der Berufswelt zu erleichtern.

Zu Ihren KlientInnen gehören vorrangig Frauen. Mit welchen Anliegen und Herausforderungen kommen sie zu Ihnen, um sich beraten zu lassen?

Ich begleite vorwiegend Frauen, die sich den Zugang zu neuen Wegen wünschen. Viele von ihnen haben Probleme mit ihrer Sichtbarkeit. Sie haben das Gefühl, nicht richtig wahrgenommen zu werden und möchten ihre Einzigartigkeit in den Vordergrund stellen. Frauen sind dabei oft zurückhaltender und meinen, dass ihre Kompetenzen noch nicht ausreichen. Warum auch immer, fällt es Männern leichter, sich auf die Bühne zu stellen und zu sagen: „Hier bin ich.“

Doch wenn Frauen den Mut haben, all ihr vorhandenes Wissen nach außen zu tragen, liegt darin eine große Chance. Sie wären in der Lage, andere Strukturen oder Unternehmenskonzepte zu entwickeln. Eine Klientin von mir hat es sehr schön in einem Satz zusammengefasst: „Ich möchte einen Glücksort haben, wo man arbeiten und leben kann und wo klar ist: Wenn das Kind krank ist, gibt es Mechanismen, die der Frau eine Lösung ohne Stress ermöglichen.“

„Je mehr Ausbildungen die Menschen haben, desto unkreativer werden sie.“

Apropos Kinder: Im Gegensatz zu Erwachsenen ist es für sie selbstverständlich, kreativ zu sein. Haben wir diese Fähigkeit verloren?

Je mehr Ausbildungen die Menschen haben, desto unkreativer werden sie. Das liegt an der jahrelangen Prägung, dass es, egal auf welche Frage, nur eine richtige Antwort gibt. Weicht man davon ab, gibt es Punkteabzug. So funktioniert das Schulsystem. Es ist nicht unbedingt auf kreative Lösungen ausgerichtet. Das macht das Feld unglaublich klein und erhöht zusätzlich den Stress, wenn man diese eine Antwort nicht kennt.

Ich glaube, es ist wichtig, den Schritt bewusst zu wagen und dieses Feld zu öffnen. Es muss nicht sofort umsetzbar sein, es geht darum, Ideen zu sammeln. Alles ist erlaubt. Wenn Kinder ein Huhn mit drei Beinen zeichnen, was solls? Klar gibt es dieses Huhn! Wenn sie eine Kiste finden, wird daraus ein Raum- oder Piratenschiff oder ein Schloss. Sie fangen sofort an zu fantasieren, ohne sich zu denken: „Ui, das ist doch nur eine Kiste.“

Neben der Schule heben Sie in Ihrem Buch die Erziehung sowie soziale Konventionen als Gegenspielerinnen des kreativen Prozesses hervor. Wie lassen sich diese eingelernten Systeme ändern?

Das ist eine Übungssache. Zunächst geht es darum, sich bewusst zu machen, dass man sich selbst einschränkt. Dann kann man sich überlegen, was man verändern kann. Das Gehirn ist ein wunderbarer Muskel, der sich wie jeder andere trainieren lässt. Je öfter man versucht, Grenzen zu verschieben und verrückte, regelbrechende Gedanken zuzulassen und als Sprungbrett für neue Impulse, Ideen und Gedanken zu nutzen, desto leichter wird es. Das ist der sogenannte Spielemodus.

„Es geht darum, die Freude am Schöpferischen wiederzufinden, die wir in der Kindheit hatten.“

In unserer schnelllebigen Zeit „müssen“ wir sehr viel. Vieles dreht sich um Selbstoptimierung – privat und beruflich. Müssen wir jetzt auch noch kreativ sein? Erzeugt das nicht noch mehr Druck?

Nein, ich glaube nicht, dass man muss. Ich würde auch nicht sagen: Sei kreativer! Das löst unglaublichen Stress aus. Es ist mehr ein Angebot, auszuprobieren, was dabei herauskommt, wenn man Dinge kombiniert und den Blickwinkel ändert. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie sind eine Amöbe oder ein lächelnder Buddha. Wie würden diese reagieren, wenn sie die Situation betrachten? Welche Lösungen würden auftauchen? Es geht darum, die Freude am Schöpferischen wiederzufinden, die wir in der Kindheit hatten. Zu spielen, ohne vorher ein Drehbuch verfassen zu müssen.

Was raten Sie Menschen, die beabsichtigen, jeden Tag ein Stück kreativer zu werden?

Eines der wichtigsten Grundprinzipien ist das Trennen von Fantasie und Umsetzung. Also, sich der Fantasie zu öffnen und sich beispielsweise vorzunehmen, den ganzen Tag nur verrückte Dinge zu machen. Ich drehe dann zum Beispiel den Ablauf des Frühstücks komplett um und esse Sauergurken.

Der zweite Tipp lautet, so viele Ideen wie möglich zu finden, nicht nur eine Lösung. Das ist wie bei der Suche nach einem Goldschatz. Je mehr Nuggets man hat, desto höher ist die Chance, die Antwort zu finden.

Wie reagieren Sie heute, wenn Sie eine Blockade erleben? Wie setzen Sie ihr gewonnenes Wissen ein?

Natürlich kommt es vor, dass mir nichts einfällt oder ich Blockaden habe. Alles andere wäre seltsam. Ich benutze dann meine Kreativität, um wieder herauszukommen. Am Anfang steht das Bewusstwerden meiner eigenen Blockaden, die sich in negativen Gedanken wie etwa „Oh Gott, das schaffe ich nie im Leben“ äußern. Danach geht es darum, mich zu entscheiden, worauf ich achte. Konzentriere ich mich auf meinen inneren Kritiker oder lieber auf die Chancen und Möglichkeiten, die sich aus der Blockade ergeben? Denn Zweiteres bringt mich weiter.

Wenn mir nichts einfällt, probiere ich eine Kreativitätstechnik aus und versuche, etwas enorm zu übertreiben: statt aufzustehen, den ganzen Tag im Bett zu bleiben oder überhaupt nicht schlafen zu gehen. Mittlerweile fällt es mir sehr leicht, aus dem einengenden Gedankengerüst auszubrechen.

Foto: Bela-Photography

Zur Person

Christine Klell ist seit 2004 als Hochschuldozentin und Workshopleiterin in Deutschland, Österreich und der Schweiz tätig. Unter dem Motto „Entfalte deinen eigenen Creator“ begleitet und unterstützt sie Menschen, vor allem selbständige Frauen, dabei, kreativ zu denken und auf diese Weise innovative Ideen zu entwickeln. Ihr Buch „Kreative Intelligenz im Business“ ist im Herbst 2022 erschienen und auch als Hörbuch erhältlich. Darin teilt Klell praktische Tipps und Beispiele und lädt dazu ein, Lösungen abseits der gewohnten Wege zu finden.

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  • Veröffentlicht: 25.07.2023
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