Wir haben unsere Leserinnen eingeladen, ihre Erfahrungen, Erlebnisse oder Bilder unter dem Motto „Was ich gerade jetzt schätze“ mit uns zu teilen.
Was ich gerade schätze, …
… entspricht sicher nicht Ihren Erwartungen. Ich mutiere nicht zur Hobbyschneiderin, habe keinen Großputz im Haus erledigt, nichts ausgemistet oder geordnet, bin leider auch kein kreativer, helfender Engel für die Nachbarn oder eine Heldin des Corona-Alltags, habe keine neuen Rezepte ausprobiert und Hausmusik machen bei mir höchstens die Vögel im Garten.
Zwei Wochen vor dem Corona-Ausnahmezustand begann mein Krankenstand. Mein persönlicher Zusammenbruch, fast zu erwarten, nach meinem Leben und Leiden in den letzten Jahrzehnten. Anfangs mein körperliches „Nichts geht mehr“, was es mir erleichterte, auch zum Arzt zu gehen, dann mein psychisches, lange gut getarnt vor der Außenwelt, vor allem auch im Berufsleben.
Was ich gerade schätze, ist, …
… dass ich nicht funktionieren muss, dass ich quasi „Glück“ hatte, noch vor dem Corona-Ausnahmezustand alle berufliche Verantwortung abgegeben zu haben im Wissen, jetzt für einige Monate tatsächlich für mich da sein zu dürfen, wieder neu auf mich achten zu lernen, hinzuhorchen, was los und was vielleicht doch noch möglich ist, die Chance erhalten zu haben, den Notausgang zu nehmen …
Was ich gerade schätze, ist, …
… dass ich mich nicht zusammenreißen muss, dass ich ausschlafen kann (was nach manchen Nächten mit Ängsten und Panik ein Geschenk ist);
… dass Telefonate oder schriftliche Nachrichten ausschließlich „Wesentliches“ zum Inhalt haben;
… dass niemand „einfach so“ vorbeikommt (weil mich das zunehmend mehr stresst);
… dass ich mir zugestehe, dass „nichts“ sein darf (kein Planen, Organisieren, kein Fortgehen, keine Mitfeier der Karwoche, fast keine Gedanken um Ostergeschenke …);
… dass ich tatsächlich in jeden Tag neu hineinspüren kann, nur das mache, was mir gerade möglich ist, ganz spontan auf Schmerzen, Ängste, Erschöpfung reagieren kann, mich jederzeit hinlegen und stundenlang aus dem Fenster schauen darf (und voller Dankbarkeit und Glück „da draußen“ Märzenbecher, Tulpen, Gänseblümchen, Stiefmütterchen, allerlei Grün und Blütenzauber sehe, dazu die muntere Vogelschar und die Feldhasen, aber auch die Nachbarn, bei denen das Leben weitergeht, wo der Kärcher zu Höchstformen aufläuft und die Autoreifen glänzen wie nie zuvor);
… dass ich langsam auch Übungen mache, Qi-Gong oder Yoga oder einen kleinen Spaziergang, manchmal geht tagelang nichts, dann wieder ein bisschen etwas und es ist egal, ich muss nichts erreichen;
… dass ich Zeit zum Lesen habe und merke, wie hungrig meine Seele nach guten Worten, nach Erkenntnissen, nach Hoffnungsvollem ist;
… dass ich mich nicht zum Fortgehen zwingen muss (wie so häufig in den letzten Jahren), mich nicht „überwinden“ und niemanden enttäuschen muss (der es eh gut mir meint);
… dass ich nichts für die Arbeit vorbereiten muss;
… dass der Haushalt nicht immer in Ordnung sein muss,
… dass Frühling ist, was gerade jetzt fast „trotzig“ anmutet.
Was ich schätze, ist, …
… dass ich in diesem Land lebe, unter vielen so besonnenen, verantwortungsbewussten, achtsamen Menschen (auch Politikern, was mich heuer so positiv überrascht, freut und dankbar sein lässt).
Natürlich bin ich nicht so naiv, blind, blauäugig, die schlimmen, schweren, lebensbedrohlichen Auswirkungen der Corona-Zeit nicht wahrzunehmen. Aber ich bin zu eingebremst, so auf mich „reduziert“, dass es gerade gilt, das eigene „System“ irgendwie zu retten. Ich bin dankbar, dass das möglich ist. Ausgang – wie bei der Pandemie – ungewiss …
Foto: Andrea Trawöger
Über Ihre Empfehlung würden wir uns
in diesen herausfordernden Zeiten besonders freuen.