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Warum sich meine innere Stimme manchmal täuscht

Warum sich meine innere Stimme manchmal täuscht
Foto: AdobeStock

Meine innere Stimme verlangt viel von mir. Sie meldet sich in allen möglichen Situationen und kann ganz schön nerven. Sie kann mir aber ebenso dabei helfen, Dinge neu zu bewerten, umzudenken und mutig zu sein.

Spätestens in der Obstabteilung im Supermarkt beginnt meine Misere: „Soll ich die Bioäpfel aus Italien oder die österreichischen Nicht-Bioäpfel nehmen?“ „Darf ich noch Avocados kaufen, oder ist das wegen den Auswirkungen auf das Klima nicht vertretbar?“

Meine innere Stimme verlangt viel von mir. Sie meldet sich in allen möglichen Situationen und kann ganz schön nerven. Sie fordert nicht nur nachhaltig oder klimaneutral einzukaufen, sondern geht noch weiter. Meine innere Stimme verlangt, dass ich eine gelassene Mutter, liebevolle Ehefrau, hübsche Partnerin sein soll. Manchmal will sie auch, dass ich eine talentierte Haubenköchin, hilfsbereite Tochter, nette Schwester, coole Tante oder einfallsreiche Cousine bin. An meine Grenzen stoße ich, wenn ich beabsichtige, möglichst viel Zeit mit den Kindern zu verbringen und gleichzeitig mit meinem Mann im Homeoffice effektiv zu arbeiten. Manchmal habe ich das Gefühl, dass meine innere Stimme einfach alles will und mit nichts so wirklich zufrieden ist.

Fragen über Fragen

Meine innere Stimme ist ziemlich vielfältig, reichhaltig und komplex. Die Fülle an Möglichkeiten scheint sich zuerst als Freiheit zu präsentieren, entpuppt sich dann aber schnell als Überforderung. „Wer oder was soll ich denn nun sein?“, meldet sich meine innere Stimme erneut zu Wort. „Alles? Versäume ich etwas, wenn ich nicht alle Möglichkeiten ausnutze? Wie hat eine Frau 2023 zu sein?“ Diese Fragen verunsichern mich. Wieso frage ich überhaupt und bin nicht einfach? Wieso lasse ich dieser inneren Stimme so viel Raum?

Mein Erklärungsversuch dazu: Schon als Kind lernte ich von meiner Mutter beispielsweise, dass einmal am Tag ein frisches, warmes Essen auf den Tisch kommen soll. Dies wurde mir auch täglich vorgelebt und manifestierte sich in meinem Kopf als Glaubenssatz: „Eine gute Mutter kocht einmal am Tag frisches Essen.“ An diesem Punkt beginnt mein Dilemma als Frau im 21. Jahrhundert. Das Rollenbild der weiblichen Generationen vor uns war ein klar definiertes, vor allem jenes der Mutter: Die Frau war für die Kinder zuständig und der Mann ging arbeiten. Heute können wir alles sein. Erfolgreiche Mutter, die Wert auf frisches und selbstgekochtes Essen legt, zum Beispiel. Die liebevolle Ehefrau, die nach einem 12-Stunden-Tag noch lächelnd gemeinsam mit dem Mann das Geschirr spült, nachdem sie vorher die Kinder geduldig ins Bett gebracht hat: eine weitere Idee. Das täglich zur Verfügung stehende Zeitmanagement und die eigenen Ressourcen lassen nicht immer zu, all diese Erwartungen zu erfüllen. Und schon meldet sie sich wieder – meine innere Stimme: „Ich hoffe, du weißt, dass du mal wieder Sport machen solltest! Verbringst du genug Zeit mit den Kindern? Mach dich finanziell nicht von deinem Mann abhängig, wenn du Teilzeit arbeiten gehst!“

Leider endet dieses Streben nach den vielen verschieden Rollenmöglichkeiten sehr oft in Stress, Erschöpfung oder Frustration. „Wo wollen wir hin? Welche Rolle sollen wir leben? Was ist richtig, was ist falsch?“  Das Gute ist, dass diese Fragen nur von uns selbst beantwortet werden können. Hierfür kann die innere Stimme wiederum zur Hilfe genommen werden, indem sie reflektiert und wenn nötig gezügelt oder forciert wird.

Kursänderung

Ich versuche meine Stimme nicht immer ernst zu nehmen, vor allem versuche ich aufzuhören, es allen recht machen zu wollen. Ich erlaube mir, selbstbewusst meinen eigenen Weg zu gehen, ohne dauernder Rechtfertigung, weil ich „zu viel“ oder „zu wenig“ bin. Ich lerne jeden Tag aufs Neue, auf meinen Körper und meine Psyche zu hören. Ich lerne zu spüren, was sich gerade richtig für mich anfühlt. Ich versuche mutiger zu sein und auch Risiken einzugehen. Denn es ist mein Leben, meine Rolle und ich darf diese neu definieren.

Zu viel Freiheit überfordert mich. Meine innere Stimme bremst mich auch manchmal. Sie kann mir aber ebenso dabei helfen, Dinge neu zu bewerten, umzudenken und mutig zu sein. Ich kann sie immer mehr als Unterstützung sehen, meine Bedürfnisse besser zu erkennen. Es bedarf konsequenter Arbeit, diese innere Stimme positiv zu werten. Manchmal ist professionelle Hilfe von Vorteil, manchmal auch nur ein Gespräch mit einem wohlgesonnenen Menschen. Manchmal braucht meine innere Stimme auch Zeit und Raum, damit ich sie hören und gegebenenfalls ernst nehmen kann.

„Ich sehe meine innere Stimme immer mehr als Geschenk, welches regelmäßig ausgepackt, begutachtet und gepflegt werden darf. Ich muss meiner inneren Stimme aber nicht immer alles glauben und darf ihr auch kritisch gegenüberstehen.“

Wenn sich meine innere Stimme nach einem anstrengenden Arbeitstag wieder fordernd bei mir meldet und nach einem warmen, frisch gekochten Essen verlangt, trau ich mich, ihr zu widersprechen und zu antworten: „Heute tut es Take-away oder eine Tiefkühlpizza auch!“

Andrea Wurz B.Sc. i.A.

Kommunikations- und Resilienztrainerin,
Persönlichkeitsentwicklerin

Web: andreawurz.com

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  • Veröffentlicht: 01.03.2023
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