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03/24

Die Kraft der Vorfahrinnen

Die Kraft der Vorfahrinnen

Wer hat Sie geprägt, wer ist Ihnen Vorbild? Auf diese Frage reagierten viele Leserinnen mit Erzählungen über Mütter und Großmütter. Ein Ausschnitt aus den Zuschriften

„Eine mütterlich-väterliche Frau“

Meine Großmutter – eine emanzipierte, berufstätige Frau?

Bis heute war mir dieser Gedanke noch nie gekommen. Habe ich sie doch nur in Erinnerung, wie sie im Korbsessel sitzt, eine Decke über den Knien, die Füße in Filzpatschen. Sie sitzt am Fenster, blickt zum schönsten Berg der Welt hinüber, zur Winterstaude, die wie ein Riesenvogel ihre Schwingen um das Heimatdorf Hittisau legt. „Mögt Ihr ein Schlücklein Wein?“, fragt mein Gotle Anna. Ehrerbietig ist die Anredeform „Ihr“, ehrerbietig die Haltung der Tochter, die ihrer Mutter ein Gläschen verdünnten gezuckerten Refosco reicht. Man hat einfach Achtung vor dieser über 90-jährigen Frau, die herzkrank ist und fast nur noch in diesem Korbstuhl sitzt. Eine natürliche, eine übernatürliche Würde strahlt von ihr aus.
Diese uralte Frau, meine Großmama – eine emanzipierte Frau?

Der „Vatter“, wie mein Großvater von seiner Frau und den Kindern genannt wurde, war als junger Lehrer von Dornbirn an die zweiklassige Schule Bolgenach gekommen. Wie muss das Herz des Mädchens Barbara Hagspiel geklopft haben, als sie den hübschen jungen Lehrer Julius Salzmann zum ersten Mal erblickte. Sicher ist es Liebe auf den ersten Blick gewesen zwischen meinen Großeltern. Sie lehrte die Mädchen an der Schule handarbeiten. Natürlich war sie nicht ausgebildet wie die Werklehrerinnen heutzutage. Sie hatte von irgendwoher ein paar Handarbeitshefte, hatte sich mehr oder weniger autodidaktisch Nähen, Stricken und Häkeln beigebracht. Und nun gab sie ihr Können an die Dorfmädchen weiter.
Meine Großmutter – berufstätig.

Die beiden heirateten und bezogen die winzige Wohnung im winzigen Schulhaus. Meine Mama kam zur Welt, meine Tante Johanna, Onkel Oskar, Onkel Julius, Tante Rosa und mein Gotle Anna. Großvater musste in den 1. Weltkrieg. Großmama schrieb ihm, es gebe eine kleine Landwirtschaft mit einem Bauernhaus am Gfäll zu kaufen. Und Platz für die Kinder sollte man haben. Und mit ein paar Stück Vieh könnte sie den Kindern Milch und Fleisch geben und vielleicht auch noch ein bisschen verkaufen. Sie hatte ihren Anteil am Familienerbe ausbezahlt bekommen, und auch ihr Gotle hatte ihr ein bisschen Geld hinterlassen. Großvater stimmte dem Kauf zu. Großmama wickelte den Handel ab und kaufte das kleine Gut – das Geld hätte später während der Inflation, wie man so sagt, „noch für einen Laib Brot gereicht“. Sie war eine Bäuerin, die Garten, Hof und Stall bewirtschaftete und so für den Lebensunterhalt der Familie sorgte. Das kann man wohl „berufstätig“ nennen. Zudem war sie während der Kriegszeit Alleinerzieherin mit sechs Kindern. Sicher wusste der „Vatter“ die Leistungen seiner Frau zu schätzen.
Meine Großmutter – eine emanzipierte Frau.

Großvater kehrte aus dem Krieg zurück. Meine Mama war 25, als er eine Lungenentzündung bekam. „Die wievielte ist es?“, fragte ein Mann aus dem Dorf. „Die dritte“, antwortete meine Mutter. „Arme Kinder!“, sagte der Mann, denn spätestens an der dritten Lungenentzündung starb man damals. Er war 51 Jahre alt, als ihm seine Frau die Hände um das Sterbekreuz falten musste. Meine Mama war damals noch nicht verheiratet, alle ihre jüngeren Geschwister waren Heranwachsende.
Großmama – allein mit einem Haus voll junger Leute.
Eine mütterliche, eine väterliche Frau.

Resi Riesner

Foto: Privatarchiv der Familie Riesner

„Sie hat mich gelehrt, Schweres zu meistern“

Meine Mutter ist auf einem Bauernhof groß geworden, zusammen mit acht Geschwistern. Sie hat mir erzählt, dass sie gerne Ärztin geworden wäre. Aber sie hat sich nicht getraut, diesen Wunsch überhaupt zu äußern. So verdingte sie sich als Magd, ebenfalls auf einem Bauernhof, und lernte in dieser Zeit meinen Vater kennen. Er betrieb damals eine kleine Landwirtschaft, eine ebenso kleine Gastwirtschaft und dazu eine Säge. Mama war seine große Liebe und er setzte zu Hause durch, dass er so ein armes Mädchen heiraten durfte.

Fast im Jahresrhythmus kamen meine Geschwister zur Welt. Der älteste Sohn litt an der „Englischen Krankheit“. Verzweifelt befolgte meine Mutter die Anweisungen des Arztes, ihn an die Sonne zu bringen, ihm vitaminreiche Kost zu geben – und der Bub wurde gesund! Das nächste Kind starb nach der Geburt an Herzschwäche, das nächste überlebte, die folgenden Zwillinge starben. Ich war dann das dritte Kind, das am Leben geblieben ist.

Und dann kam der Tag, der das Leben meiner Mutter verändert hat: Mein Vater verunglückte bei Holzarbeiten tödlich. Nun stand sie da mit uns drei Kindern, mit der Schwiegermutter, mit der Landwirtschaft, der Gastwirtschaft und der Säge. Wie sie alles geschafft hat, wusste sie später selbst nicht mehr. Außerdem stellte sich bald heraus, dass sie wieder schwanger war. Vielleicht hat ihr das Wissen um das neue Leben die Kraft gegeben, weiterzumachen. Wie sie mir erzählt hat, ist es ihr ein Trost gewesen, dass sie die „Kinder genommen haben, wie sie gekommen sind“. So habe mein Vater vier im Himmel bei sich und sie vier auf der Erde.

Es gab viele Menschen, die Mama unterstützten. Mama hat später erzählt, wie froh und stolz sie immer war, wenn sie die Brauereirechnung rechtzeitig bezahlen konnte. Wir Kinder hatten aber trotzdem eine unbeschwerte, schöne Kindheit. Obwohl sie bereits mit 36 Witwe wurde und eine attraktive Frau war, hat sie nie eine neue Heirat in Betracht gezogen. Später hat sie uns erklärt, dass sie wegen uns und auch wegen der Schwiegermutter darauf verzichtet hat.

Ihr einziger Wunsch war immer, dass wir Kinder „g’hörig tuand“ (worüber ich als Kind immer geschmunzelt habe). Einen Ausspruch von ihr möchte ich noch zitieren: „Wenn ich gewusst hätte, was im Leben auf mich zukommt, hätte ich gesagt: ‚Herrgott, dafür musst du eine andere suchen, das kann ich nicht!‘“

Maria Wirthensohn

„Ich gehe auf ihren Spuren“

Meine Ururgroßmutter Ursula Swoljen kam aus dem slowenischen Karst und war Dienstmagd im damaligen k. u. k Beamten-Arsenal in Triest. Wie viele andere ihres Standes wurde sie geschwängert. Man munkelt, von einem österreichischen Adeligen. Ihre Tochter Ernestine, meine Urgroßmutter, wurde als Findelkind von Zieheltern in Skofja Loka aufgezogen.

Mit 20 Jahren, 1884, ist meine Urgroßmutter allein zu Fuß und, ohne ein Wort Deutsch zu können, aufgebrochen, um in Österreich bei der Bahn Arbeit zu finden. Sie kam bis nach Admont in der Steiermark und wurde Köchin. Dort lernte sie ihren späteren Mann Josef Macek aus Krumau, Tschechien, kennen. Die beiden kauften einen Hof in der Nähe von Gleisdorf. Meine Mutter Ernestine trägt ihren Namen.

Die Urgroßmutter Ernestine war bekannt für ihren starken Willen und ihren Freiheitsdrang. Sie wurde 86 Jahre alt, arbeitete bis ins hohe Alter und verstarb, nachdem sie über eine Treppe gefallen war, an einem Oberschenkelhalsbruch.

Ich vermute, dass ich einiges von dieser Frau geerbt habe. Vor allem den Drang zur Selbstbestimmung, zu Freiheit und zum Gehen. Ich folgte dem Weg meiner Urgroßmutter in Etappen in den letzten Jahren von Jesenice nach Triest. Die Wanderungen durch den Karst sind die schönsten, die ich bislang machen durfte.

Ingeborg Hofbauer

„Die Mama muss um jeden Schilling betteln“

Meine Großmutter, meine Großtante und meine Mutter hatten ein ähnliches Schicksal. Sie waren jeweils Erbinnen eines mittelgroßen, schönen Kremsmünsterer Bauernhofes.

Man könnte denken, dass ihnen das Freiheit und Macht verschaffte. Dennoch mischten sich die Eltern kräftig ein. Sie konnten nicht immer ihre Liebe heiraten. Die Großtante wurde die Besitzerin meines Elternhauses, sie fügte sich unter Tränen den elterlichen Vorstellungen. Meine Mutter wurde von ihrem Vater unterstützt.

Mein Vater musste sich auf dem Hof erst einfinden. Die Mutter wusste um ihren Vorteil als Besitzende. Dies tat ihrem Selbstbewusstsein gut. Aber das Geld war in Vaters Händen, sodass ich als Mädchen erlebt habe: Die Mama musste betteln um jeden Schilling. Ich habe daraus die Konsequenz gezogen, immer mein eigenes Geld zu haben.

Ihre größte Aufgabe meisterte meine Mutter in den 80er-Jahren. Die Schwiegertochter starb in jungen Jahren. Mein Bruder hatte vier schulpflichtige Kinder und den Hof alleine zu betreuen. Wenn die Kinder nach Hause kamen, gab es warmes Essen und es war jemand da, der zuhorchte oder Vokabeln prüfte.

Clara Steinmassl

„Sie hat von England geträumt“

Meine Mutter, Jahrgang 1925, wurde in eine Handwerkerfamilie hineingeboren (schon ihre Mutter hat, aus einfachsten Verhältnissen stammend, obwohl ihr Mann erfolgreicher Schlossermeister und Bürgermeister einer Kleinstadt war, in jungen Jahren und neben drei Kindern ein eigenes Geschäft eröffnet).

Als gute Schülerin war es ihr Traum, nach England zu gehen. Aber das war 1939 und der Traum somit ausgeträumt. Ab diesem Zeitpunkt arbeitete sie im Geschäft ihrer Mutter mit. Die vielen sozialen Kontakte, die sich dadurch ergaben, hat sie sehr geschätzt, sowie diejenigen, die sich durch ihr jahrzehntelanges Singen im Kirchenchor (und das Austragen der „Welt der Frau“) ergeben haben.

Obwohl ich selbst studiert und mit meinem Mann zusammen eine Praxis betrieben habe, beschleicht mich manchmal das Gefühl, da gar nicht so etwas Großartiges geleistet zu haben im Vergleich mit meinen beiden Ahninnen!

Sigrid Kerle

„Ich habe sie erst spät geliebt“

Meine Mutter und ich hatten keine liebevolle Mutter-Tochter-Beziehung. Schon als Kind habe ich sie oft gefürchtet, sie war sehr streng und fordernd! Ich erlebte sie auch für meine Begriffe „bigott“! Mein Vater und zwei seiner ledigen Schwestern, die ebenfalls in meinem Elternhaus wohnten, gaben mir Liebe und Verständnis, so habe ich die Geborgenheit eben bei anderen mir nahen Menschen gefunden und genossen.

Vor 20 Jahren ist meine Mutter zu Hause gestorben. Meine Schwester und ich haben sie dabei begleiten dürfen. In der Zeit ihrer fünfmonatigen Pflegebedürftigkeit sind wir uns etwas nähergekommen. Ich genoss, dass sie mich öfter anlächelte, und sie schien mit mir zufrieden zu sein, wenn ich etwas für sie tat.

Sie wurde „mild“. Als ich vor zehn Jahren an Brustkrebs erkrankte, spürte ich sehr deutlich, wie wertvoll es für mich ist, gläubig zu sein. Ich erinnerte mich oft an Mutters Worte: „Das Kreuz ist nur so groß, wie du es tragen kannst“ – das tat mir gut!

Burgi Kemetmüller

„Du kannst alles, wenn du Verantwortung übernimmst“

In meiner Familie hat wohl keine der Frauen die Weltpolitik verändert, aber sie haben sich selber emanzipiert: meine Großmutter, Jahrgang 1878. Ihre Mutter stammte aus dem Wiener Umland und heiratete nach Ostpreußen.

Meine Großmutter erlernte mit 48 Jahren den Beruf der medizinischen Masseuse und war bis zum Ende des 2. Weltkriegs selbstständig tätig.

Sie war sehr couragiert und überquerte 1945 allein die grüne Grenze. Sie war Vorbild für uns Enkelkinder und zeigte, dass alles für uns Frauen möglich ist, aber nur, wenn wir auch bereit sind, Verantwortung zu übernehmen mit allen Vor- und Nachteilen.

Christe Ruggaber

„Stolz bin ich auf meine Oma mütterlicherseits“

Sie war Bäuerin. Obwohl sie sieben Kinder und 18 Enkelkinder hatte, entfaltete sie ihre ganz persönlichen Leidenschaften. Eine war ihre Liebe zu ihren Blumen, die sie auf ihrer großen Veranda hegte und pflegte. Eine andere war das Sticken. Sie orientierte sich dabei niemals an einer Vorlage, sondern an ihren selbst entworfenen Mustern.

Am liebsten stickte sie Altartücher für die Dorfkirche und für ihre Enkelinnen Tischtücher. Viele Freunde und Bekannte beschenkte sie mit den verschiedensten Stickarbeiten und mit den Ablegern ihrer Blumen. Freude machte es ihr, Geschichten, Gedichte, Witze und andere Texte, die ihr gefielen, in Hefte abzuschreiben. So besitzen alle ihre Enkelkinder als Erinnerung an sie ein Heft, vollgeschrieben mit ihrer wunderschönen Schreibschrift.

Oma war im Dorf eine gern gesehene Persönlichkeit und wurde „Stanzitant’“ (Konstantia) genannt. Sie wurde immer wieder gebeten, bei Totenwachen vorzubeten. Sie erzählte spannend, die Menschen hörten ihr gerne zu.

[Oma und Opa heirateten sehr jung und führten eine gute Ehe. Sie achteten einander und ließen einander Freiraum. Sonntags ging Opa Nachbarinnen besuchen, Oma empfing ihre Gäste zu Hause. Sie hatte immer eine Flasche Wein in der Küche stehen und trank täglich ein bis zwei Gläschen. Dies war selbst in der Weinbaugemeinde, in der wir lebten, für eine Frau ungewöhnlich.

Als ich in meinen späten 20ern noch nicht verheiratet war, bemitleidete mich mein Opa. Meine Oma verteidigte mein Junggesellinnenleben. Sie machte ihm klar, dass dies heute eine andere Zeit sei, und ich mit meinem erfüllenden Beruf, meinem Freundeskreis, meinem Stadtleben und meinen Reisen ein gutes Leben führe.]

Gerti Loibl-Werner

„Welt der Frauen“ Ausgabe Juni 2021

Lesen Sie weitere Leserinnenbriefe im Artikel „Die Kraft der Vorfahrinnen“ in der Juni-Ausgabe 2021. Ein kostenloses Testabo können Sie gleich hier bestellen.

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  • Veröffentlicht: 27.05.2021
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