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Vom Zweifeln und vom Glauben

Vom Zweifeln und vom Glauben

Auf Tuula Lahti-Haapala wartet niemand vor dem Gefängnistor.

„Die Luft roch anders als auf der Freifläche der Haftanstalt: nach feuchtem Gras, welkendem Laub, zerdrückten Vogelbeeren. Es war Erntezeit. (Seite 7)“

Leena Lehtolainen gibt uns LeserInnen genau drei Seiten, auf denen wir die wegen Kindesmissbrauchs verurteilte Tuula an ihrem ersten Tag in Freiheit begleiten. Und hier streut die geniale Autorin bereits „Storch“ in Tuulas und unsere ermittlerisch-findigen Gedanken. Man erfährt, dass Tuula Olli helfen wollte, seine Schatten vertreiben wollte, aber die falschen Mittel gewählt hatte.

„In ihrem Tagtraum vermischte Olli sich mit all den anderen, den Braunäugigen, Goldlockigen, Weichhändigen.“

Ermittlerin Maria Kallio staunt über die Identität der strangulierten Frau, forscht im Gefängnis nach ihren möglichen Geheimnissen und landet schließlich bei einem Pastor mit Hausschlange. Was darf er ihr nicht erzählen? Was muss sie ihm glauben? Wann lernt er das Zweifeln? Wie tief ist er in Tuulas Geschichte verstrickt, die selbst Schlimmes erleben musste.

Sexueller Missbrauch durch Vertraute, ist ein gängiger Plot der Kriminalliteratur geworden und hat – wie Krimis rund um Gewalt gegen Kinder und Frauen – ein Tabu geschwächt: Es gibt ihn, man muss darüber reden, selten hat der Täter, die Täterin hinter einem Busch auf die Opfer gelauert. Meistens sind und waren es Vertraute.

Kallio kämpft mit ihrer neuen Truppe, sie vermisst einen alten Kollegen, der nach dem Tod seiner Tochter Sennu nicht mehr zurückkam. Krebs? Wer will seine Kinder nicht davor schützen! Inzwischen dreht sich die Ermittlungsspirale weiter und findet bei Tuulas spärlicher Hinterlassenschaft Hinweise auf den legendären und beliebten Sänger Tarmo Mättö. Dann begeht dessen Frau Selbstmord? Oder war es Mord? Wer hat Interesse daran, diese liebevolle und genaue Frau zu töten. Sie hat jahrzehntelang Kinder in ihrem Haus betreut, unzählige Fotos und Geschichten erzählen von diesen glücklichen Bullerbü-Tagen. Dazwischen tummeln sich verwirrte Jugendliche, tummeln sich Menschen, die im Hass beinahe ersticken.

„Ich wollte den Typ selbst erledigen. Weißt du, es ging mir zwar besser, aber noch nicht gut genug, um die Sache richtig einzuschätzen und mir Hilfe zu holen. Ich wollte Luka rächen und den Storch für alles das bezahlen lassen, was wir vor der Kamera mit diesen Kerlen tun mussten. (S. 439)“

Kallio findet eine Spur, hält an ihr fest und versäumt manchen häuslichen Sauna- und Spieleabend. Es ist wie immer: Spannend, herausfordernd und ein klein wenig traurig auch – wenn da nicht dieser Satz wäre:

„Elternliebe ist nicht allmächtig. Ich bin daran zerbrochen, dass ich Sennu nicht helfen konnte. ... Aber es gibt andere Kinder, denen ich helfen kann, indem ich das tue, was ich gelernt habe: Polizist sein.“

 

Was Sie versäumen, wenn Sie sich hier nicht gruseln wollen: differenzierte Sicht auf Täter-Opfer-Beziehung, Prägung durch Gesellschaft, Manipulation, gut belegte Erkenntnis über weibliche Sexualstrafträterinnen (Pädophilie), Umgang mit Krankheit und Tod von Kindern, Umgang mit Hass auf Pädophile, Schuld und Sühne, Bekanntschaft mit einem Pastor, dessen Hausschlange Mephisto heißt

Die Autorin: 1964 geboren, arbeitet als Autorin und Kritikerin in Degerby, westlich von Helsinki. Sie ist eine international erfolgreiche Autorin, 1994 erschien ihr erster Roman mit der Ermittlerin Maria Kallio; 2012 der erste Band der Leibwächterinnen-Serie

Leena Lehtolainen:
Das Ende des Spiels. Maria Kallio ermittelt.
Aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara.
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2018.
441 Seiten.

Christina Repolust

wurde 1958 in Lienz/Osttirol geboren. Sie schloss das Studium der Germanistik und Publizistik in Salzburg ab. Seit 1992 ist sie Leiterin des Referats für Bibliotheken und Leseförderung der Erzdiözese Salzburg und unterrichtet nebenbei Deutsch als Fremdsprache. Zudem leitet sie Literaturkreise und Schreibwerkstätten für Groß und Klein. Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.“

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  • Veröffentlicht: 05.12.2018
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