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Ausgabe:
Familie
11/12/24

Viele Fragen und so manche Antworten

Viele Fragen und so manche Antworten

Renate Welsh verortet ihre Geschichten in vertrauter Umgebung, greift auf Kindheitserinnerungen zurück, überdenkt einzelne Szenen, schreibt voller Liebe von den Großeltern, ihrer Mutter und besonders häufig von ihrem Vater, seinen PatientInnen und Hausbesuchen. Da ist sie wieder, die bekannte Diskretion dieser großen österreichischen Autorin: Sie brüskiert niemanden, sie wendet neugierig ihre eigenen Erinnerungen, besteigt keinen Richterinnen-Sessel, um zu verurteilen, sondern sucht beständig die Wahrheit. Das geht auf wenigen Seiten, wie ihre gesammelten kurzen Geschichten beweisen. Viele Erinnerungen teilt die Autorin hier mit ihren LeserInnen, wenn sie beispielsweise die kleine Renate einen ganz besonderen Weg suchen lässt, der sie sehr nah an den geliebten Großvater heranführt.

„Die Trauer um ihn begann erst viel später, zugleich wurden die Bilder, die mir von ihm geblieben waren, deutlicher. Wir hatten nicht viel Zeit miteinander gehabt. Als er starb, war ich acht Jahre alt, zwischen meinem fünften und siebenten Lebensjahr war er in Wien und ich in Aussee. Dennoch ist heute noch die erste Heckenrose ein Gruß von ihm.“
Seite 8

Der Text „Ohrfeigen“ führt in ein volles Geschäft, wo das erzählende Ich eingekeilt zwischen lauter Erwachsenen warten muss. Das Ich ist ein Kind, ein ungeduldiges Kind, das hier die Leute beobachtet, die mit den Lebensmittelkarten in ihren Händen sehnsüchtig darauf warten, endlich bedient zu werden. Das Kind beginnt zu singen „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei. Zuerst geht der Führer, und dann die Partei.“ Schon drehen sich die Spitzel um, wollen wissen, welchen Text die Kleine hier sang. Die Rechtfertigung „Der Papa singt das auch!“ bringt ihr zwei Ohrfeigen ein: Die aufgebrachte Oma weiß um die Gefahr, die das unschuldige Geplauder der kleinen Renate für die gesamte Familie bedeutet. Ein Kind erlebt, wie die Großmutter, die vor nichts und niemandem sonst Angst hat, von ihren Ängsten zu flüstern und dabei heftig zu zittern beginnt. Die Erzählung wirkt länger nach. Wenn auch die Folgegeschichte „Ärger mit dem Christkind“ heiter ist, von einem unfreiwilligen Schabernack erzählt, bleibt man in Gedanken bei diesem „Damals“ oder ist es vielleicht sogar dieses Spitzel-Damals im politischen Heute?

Renate Welsh thematisiert immer wieder das Erzählen, die Kraft der Phantasie, hier noch einmal ein Zitat über die Gabe des Großvaters, sich und mit ihm die Enkelin ganz plastisch aus der Realität weg hinein in die Erinnerungen zu erzählen.

„Wenn wir auf den Roten Berg gingen, durch die Dostojewskijgasse, durch die Gogolgasse, durch die Turgenjewgasse, ... waren wir nicht in einem Wiener Vorort, sondern in Russland. Er machte aus einer Birke in einem Vorgarten eine Allee, die sich bis zum Horizont erstreckte, und aus ein paar Schneeflocken die Tundra im Winter.“
Seite 8

Was Sie versäumen, wenn Sie dieses Buch nicht lesen: Bilder von Kindheit, Auseinandersetzung mit Angst, Autorität, wachsendes Verständnis für die schwierige Situation rund um eine schwer kranke, todkranke Mutter, Tod der Mutter, Stiefmutter; feinen Witz, feine Ironie.

Die Autorin Renate Welsh ist 1937 in Wien geboren, dort und in Aussee aufgewachsen. Mit ihren Kinderbüchern wie „Das Vamperl“ oder dem Jugendroman „Johanna“ hat sie immer wieder die Qualität des Erzählens für Kinder Realität werden lassen. Sie mutet Kindern und Jugendlichen, so auch Erwachsenen Realitätsbezüge zu. Der Österreichische Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur, der Theodor-Kramer-Preis und der Preis der Stadt Wien für Literatur sind nur ein Bruchteil der Ehrungen/Preise/Auszeichnungen, die sie erhielt, erhält und weiterhin erhalten wird.

Renate Welsh:
Kieselsteine.
Geschichten einer Kindheit.
Czernin Verlag 2019.
120 Seiten.

Christina Repolust

wurde 1958 in Lienz/Osttirol geboren. Sie schloss das Studium der Germanistik und Publizistik in Salzburg ab. Seit 1992 ist sie Leiterin des Referats für Bibliotheken und Leseförderung der Erzdiözese Salzburg und unterrichtet nebenbei Deutsch als Fremdsprache. Zudem leitet sie Literaturkreise und Schreibwerkstätten für Groß und Klein. Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.“

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  • Veröffentlicht: 04.09.2019
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