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10/24

Verstörender Versuch über die ganz normale Gewalt

Verstörender Versuch über die ganz normale Gewalt

Yong-Hye, die diesen Roman dominiert, wirkte auf ihren Ehemann ab der ersten Begegnung unscheinbar, sehr unscheinbar; es mangle, so der Gemahl, an Ausstrahlung, Charme und Esprit.

Auf diese Weise brauchte ich keine intellektuellen Hochleistungen zu vollbringen, um sie für mich zu gewinnen, und ich musste auch nicht fürchten, dass sie mich mit den makellosen Herrenmodels aus Modekatalogen verglich. Sie regte sich nicht einmal auf, wenn ich zu spät zu einer Verabredung kam. (S. 7)

Die so skizzierte Frau beschließt völlig unspektakulär, kein Fleisch mehr zu essen; sie taut den Gefrierschrank ab, wirft das eingefrorene Fleisch weg und hört auch auf, zu schlafen. Jetzt fällt die Unauffällige auf, verzichtet beim Geschäftsessen auf Fleisch und starrt auf die von Fett glänzenden Lippen der anderen Speisenden, Ausreden lässt sie nicht gelten und die Tatsache, dass sie drastisch abmagert, scheint sie nicht zu stören. Das bringt ihren Ehemann durcheinander, auch ihre Familie fühlt sich aufgefordert, einzuschreiten. Vegetarische Suppen und Sojapaste mit Kimchi nimmt sie zu sich, auch die nur mit Vorsicht und über all ihrem Tun schwebt ihr magischer Satz „Ich hatte einen Traum“, mit dem sie ihren Ehemann mehr und mehr zu verstören beginnt.

Yong-Hyes Vater greift ein, will ihr brutal ein Stück Fleisch in den Mund stopfen und sie so zur Vernunft bringen: Die junge Frau greift ihrerseits zum Obstmesser und ritzt sich das Handgelenk auf – die Fahrt ins Krankenhaus ist nur ein symbolischer Trennungsakt. Kein Fleisch steht für keine Gewalt, steht für Aufbruch und Widerstand: Ihr Schwager und ihr Schwester treffen hier mit ihren eigenen Verstörungen bzw. Verweigerungen auf sie, die Ausbrecherin aus dem Familienidyll. Was bedeutet es, eine Tochter fallen zu lassen, sich wirklich nie nach ihrem Traum zu erkundigen, sie für verrückt zu erklären und noch dazu ihren Ehemann zu verstehen? Unscheinbar? Angepasst? Das ist vorbei, Befreiung und Selbstzerstörung finden hier zusammen, das Extrem der Anpassung wird mit dem Extrem der Verweigerung konfrontiert.

Wenn nicht ihr Mann und Yong-Hye die Ersten gewesen wären, die Grenzen überschritten und damit ihre heile Welt zerstört hatten, dann wäre es wahrscheinlich sie selbst gewesen, die sich aufgelöst hätte und auf Nimmerwiedersehen verschwunden wäre. Hätte nicht das Blut, das ihre Schwester heute verloren hatte, aus ihrer eigenen Brust sprudeln müssen?

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Grusel, Gerechtigkeit, genaues Skizzieren des Ausstiegs aus der Normalität, Familienporträts und –skizzen, geniale Momente der Klarsicht durch die Augen der Heldin.

Die Autorin wurde in Gwangju, Südkorea, geboren, 1994 erscheint ihr Romanerstling; aktuell lehrt sie Kreatives Schreiben am Kulturinstitut in Seoul.

Ki-Hyang Lee, 1967 in Seoul geboren, studierte Germanistik in Seoul, Würzburg und München; sie lebt als Lektorin, Übersetzerin und Verlegerin in München.

 

 

Han Kang: Die Vegetarierin.

Roman.

Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee.

Berlin: Aufbau Verlag 2016.

189 Seiten.

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  • Veröffentlicht: 26.10.2016
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