Aktuelle
Ausgabe:
Familie
11/12/24

Verrücktwerden wäre gar nicht so schlimm

Verrücktwerden wäre gar nicht so schlimm

Ausgerechnet Linda, diese geschwätzige Nachbarin, erlebt sie, die Stille und Zurückgezogene, jetzt in diesem Moment der Schwäche. Linda ist herzlich, direkt und erkennt, dass die Dame Hilfe braucht, Hilfe die sie sicher ablehnen wird. „Niemand soll sich um mich kümmern!“ – schreit Henriette der jungen Frau in ihrem Nachthemd entgegen; doch dann erkennt sie, dass es wohl besser sei, ihren Patensohn Maloud zu verständigen.

Beide Frauen kämpfen ums Weitermachen, denken an ihre Vergangenheit und ihre Wünsche ans Leben. Henriette war Cutterin beim Film, Linda ist Friseurin, versteht ihr Handwerk und möchte einfach noch mehr. Und wer ist Maloud? Warum arbeitet er in Flüchtlingscamps in der algerischen Wüste? Ist das nicht zu gefährlich. Fragen über den Suppendampf hinweg, die Suppe ist richtig gut, würde Linda nur endlich aufhören zu fragen. Die Ältere erzählt der Jüngeren schließlich bei einem Bier vom Schneiden eines Filmes, davon, wie Filme früher entstanden. Linda erzählt von ihrem Mann, den gemeinsamen Freunden und äußert harsche Kritik an ihnen:

Mein Mann hat jüngere Freunde, die wollen sich möglichst über gar nichts aufregen, die wollen von Politik nichts wissen, von der Welt nichts wissen, die wollen nur zum Urlaub in die Karibik oder Ayurveda machen in Indien, die denken überhaupt nur ans Essen, Trinken und Urlaubmachen. Und dann ärgern sie sich über Fremde bei uns hier, in deren Ländern sie aber gern All-inclusive-Hotels buchen. (S. 69)

Linda und Henriette werden Tag um Tag vertrauter, schau an, die Linda kann ja richtig gut einkaufen. Die Ältere erzählt der Jüngeren von ihrer Ratlosigkeit, die sie beim Einkaufen überfällt, wunderbar, was Linda alles in diesen unüberschaubaren Regalen findet und mitnimmt. Und wie steht es um Linda und einen Museumsbesuch? So ganz nebenbei erfährt Linda schließlich von Mirco, der in jeder Erzählung Henriettes vorkommt, ach so, eine Affäre? Ach so, der war verheiratet? Große Gespräche am Küchentisch zwischen zwei Frauen, die sich rein gar nichts schenken, die sich und die andere nahezu gnadenlos hinterfragen: Wen geht die Liebe der anderen etwas an? Wo haben Frauen begonnen, sich aufzugeben, weil die Männer so dominant waren? Damals, heute und vielleicht sogar auch noch morgen? Und dann kommt Maloud und davor geschah Veränderung.

 

Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Roman nicht lesen: innige Zuneigung, Gespräche zwischen Generationen, Wachsen und Werden einer jungen Frau, Erinnerungen einer älteren Frau, technisches Erwachen und stille Trauer, Aufbruch, bedingungslose Liebe.

Die Autorin lieben wir als Sängerin, Regisseurin und Filmerin; wir folgen ihren Spuren, wir lesen ihre Bücher und lauschen ihrer einzigartigen Stimme. Ach ja, seit 1999, als sie ihre Ausbildung am Max-Reinhardt-Seminar abschloss, ist sie Schauspielerin, von dort kennen wir sie ja eigentlich.

 

 

Erika Pluhar:
Gegenüber.
Roman.
Salzburg – Wien: Residenzverlag 2016.
337 Seiten.

  • Teile mit:
  • Veröffentlicht: 09.11.2016
  • Drucken