Der Abschied vom Elternhaus geht hier nicht abrupt, nicht aus Ärger oder aufgrund eines Unfalls heraus. Der ist wohl überlegt und damit bietet die Autorin mir als Leserin ausreichend Gelegenheit, ihr Kinder- und Jugendlichenleben in besagtem Elternhaus zu verstehen. Sie hat mich quasi schreibend eingeladen, die Einrichtung und das Verhalten der Eltern zu verstehen, ja, da waren verdammt viele Statussymbole und die brauchte diese Elterngeneration.
„Wir haben es verkauft, entschieden, beschlossen und besiegelt von einem Notar, nachdem es über fünfzig Jahre im Besitz der Familie war. Wir haben es verkauft, weil keines der Kinder im Haus wohnen wohnen wird. ... Alle haben ihr eigenes Leben, weit weg von der Heimat. (S. 10)“
Ursula Ott gibt hier keine Abgeklärtheit vor, ihr ist kalt, sie lässt das Herz sprechen, denn die Vernunft hat doch schon längst gesiegt. Zwischen dem ersten Gedanken und dem Reifen des Entschlusses und diesem Einstiegsabend ins Thema liegen 12 Monate: Sie haben ihr Leben, ihre Erinnerungen, ihre Familiengeschichte geordnet, aufgeräumt, haben gesichtet, behalten und weggegeben. Und haben dabei gut auf sich und andere geachtet, ja, manche „guten“ Sachen sollen Menschen helfen, die alles verloren haben.
Erwachsene Kinder erleben dieses Gefühl „da sollten wir schon öfter hinfahren“ und übersehen häufig, dass ihre Eltern feste Rituale, gute Bekannte als Nachbarn und so ihre eigenen Abläufe haben. Die müssen sie beim Umzug aufgeben, sich neue Nachbarn suchen. Aber was heißt dieses verdammte Suchen? Menschen, die neben einem wohnen, muss man eigentlich nicht suchen, aber man muss sich mit ihnen vertraut machen. Manche grüßt man und andere lädt man irgendwann zum Kaffee, vielleicht dann zu einem weiteren – oder eben auch nicht. Es ist ein Einkauf beim Diskonter in der fremden Stadt, die die Mutter der Autorin zum Weinen bringt: Hier ist rein gar nichts mehr wie in der Heimatstadt, hier ist alles anders, man muss suchen, man muss suchen. Auch das hat sich gegeben, aber der Schmerz findet halt sein Ventil – und wenn er einen mit dem Einkaufswagen im Diskonter erwischt.
Ein sehr liebevolles Buch, ein Buch mit wertvollen und realistischen Tipps, die lassen hier Haus in aller Liebe zurück und haben sich daher auch für Nachbesitzer entschieden bzw. entscheiden können, die mit Liebe einen kleinen marokkanischen Bistrotisch im Garten aufstellen. Es geht weiter, neue Kinder, neue Bewohner, wohl weniger Zinnbecher, dafür andere, leichtere Statussymbole. Selten habe ich so klar den Kreislauf des Lebens vor mir gesehen.
„Frühling 2019, meine Mutter ist schon über ein Jahr fest in Stuttgart. Ab und zu fährt sie nach Ravensburg, dann sitzt sie auf der Terrasse der Nachbarin und guckt zufrieden auf ihr altes Haus. ‚Ohne Wehmut’, sagt sie, ‚ich sehe ja die Stühle im Garten stehen, die machen viel mehr aus dem Grundstück als wir. (S. 147)“
Die Autorin Ursula Ott:
Jahrgang 1963, ist Chefredakteurin des Magazins „chrismon“ und Chefredakteurin von evangelisch.de, sie studierte Diplom-Journalistik in München und Paris, sie arbeitet als freie Autorin bei Fernsehen und Radio
Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Empathie, viel familiäre, biografische Einblicke, viele Ideen für das eigene Leben, klare Fragestellungen, sie erfahren, wie die Autorin vorsichtig das Thema aufbereitete, ganz ohne Klugscheißerei und Allgemeinplätze
Ursula Ott:
Das Haus meiner Eltern hat viele Räume.
Vom Loslassen, Ausräumen und Bewahren.
München: btb Verlag 2019.
192 Seiten.