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04-05/24

Tägliches Paradies

Tägliches Paradies

In diesen Zeiten ist ja vieles anders als sonst – und ein paar Dinge davon sind gut. Zum Beispiel, dass ich auf einmal mit zwei Hunden zusammenlebe. Sie bringen mir bei, wie Vorfreude geht …

In meiner Corona-WG lebe ich mit zwei Hunden zusammen: Jerry und Bilbo. Es sind sehr nette Hunde. Sie machen gute Laune und geben sich Mühe, nicht nach Hund zu riechen. Nur ihre Haare haben sie nicht im Griff. Die fliegen überall herum. Staubsaugen gehört nicht zu ihren Kernkompetenzen. Aber Schwamm drüber – in einer Schicksalsgemeinschaft muss man Kompromisse aushalten (sonst im Leben übrigens auch).

Bilbo hat honigfarbene Augen. Sobald ich in der Küche stehe und Brot schneide, Müsli in eine Schüssel kippe oder fürs Abendessen mit den Nudeln raschele, kommt er und stellt sich erwartungsfroh in den Weg. So lange, bis das Essen auf dem Tisch steht. Bilbo hat den sehnsuchtsvollsten Blick, den man sich vorstellen kann. Romeo sähe blass dagegen aus. Alles Gefühl, dessen ein Lebewesen fähig ist, legt er in diesen Blick: Oh bitte, scheint er zu sagen, nur ein Stück Möhre/Wurst/Zwiebel würde mich zum glücklichsten Hund aller Zeiten machen. Bilbo bekommt nie etwas. Es ist auch nicht so, dass er Hunger leidet, im Gegenteil: Er wird regelmäßig gefüttert. Mancher menschliche Fleischesser könnte neidisch werden: Es gibt Wild an Petersilienwurzeln oder Ähnliches. Und dennoch ist Bilbo zur Stelle, sobald es in der Küche raschelt. Und wartet und guckt. Man könnte Bilbos Leben für eine einzige Enttäuschung halten. Immer hoffen. Nie erhört werden. Manchmal allerdings denke ich, wenn ich mir ihn so ansehe, dass es auch genau andersherum sein könnte: Vielleicht lebt er in immerwährender, seliger Erwartung. Ein Dasein voller Vorfreude.

Bilbo ist ein heiterer Hund, also tippe ich auf letzteres. Dafür bewundere ich ihn. Wenn schon die Vorstellung vom Paradies das Paradies ist, lohnt sich das Leben in jeder Sekunde.

Susanne Niemeyer

lässt sich gerne inspirieren von Pippi Langstrumpf und der polnischen Dichterin Wisława Szymborska. Vor dem Einschlafen denkt sie an etwas Schönes, denn irgendwas – da ist sie sicher – gibt es immer.

www.freudenwort.de

Foto: privat

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  • Veröffentlicht: 14.04.2020
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