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09/24

Warum Hermine Granger leichter ans Ziel kommt

Warum Hermine Granger leichter ans Ziel kommt
Foto: AdobeStock

Ich verrate hier, wie ich mit einer Prise Humor und meinem Blödeltalent unseren Familienalltag lebendiger mache, und was der Polizeiinspektor Putz, Hermine Granger oder Pedro aus Südamerika damit zu tun haben.

„Verena! Mach bitte wieder den Pedro aus Südamerika!“, schallt es meinem Besuch quer durch das Wohnzimmer entgegen. Die Wimmelbücher werden hervorgeholt und drei Kinder belagern meine Freundin – die beste Stimmenimitatorin der Welt. Mit großen Augen und noch größeren Ohren lauschen sie, wie Verena dem Pedro im Buch mit gespielt spanischem Akzent Leben und Persönlichkeit einhaucht.

Stimme macht Stimmung

Während ich selig diese idyllische Szene beobachte, wird mir klar, was unsere Kinder daran so fantastisch finden. Eine Erwachsene, die sich für keinen Unfug zu schade ist, die ulkigsten Geräusche von sich geben kann und mit verschiedensten Stimmfarben die nächste Generation in ihren Bann zieht. „Endlich mal nicht die raunzende Mutter, die sie hören“, sag ich ganz leise zu mir selbst. Heute hab ich von mir selbst schon tausend Mal die gleiche Leier gehört: „Räum das hier bitte auf!“ „Fang bitte endlich mit der Hausübung an!“ „Eeeeeessseeeeeen ist feeeertiiiiig – hört mich denn niemand?“

Verena trällert für die Kinder unaussprechliche Buchstabenkombinationen mit vielen zischenden Lauten und rollenden Rs. Herzhaftes Gelächter kommt von den Kindern zu ihr zurück. In dieser Sekunde wird mir bewusst: Stimme macht Stimmung. Und dass bei uns heute der Haussegen schon etwas schief hängt, liegt womöglich auch am monotonen Klang dessen, was ich schon seit der Früh von mir gebe.

Was ich beim Vorlesen fürs Leben lerne

Dabei habe ich selbst eine Passion für Bilderbücher. Nicht nur weil ich beim Vorlesen ganz im Moment sein muss, die Nähe meiner Kinder genieße und gleichzeitig etwas Ruhe finde. Besonders weil es mir ebenso Spaß macht, Persönlichkeiten in Büchern mit meiner Stimme mehr Farbe zu verleihen. Egal ob das der tief und grummelig klingende Grüffelo ist, die präzise und schnell sprechende Hermine Granger oder der krächzende Papagei Niko aus dem Wimmelbuch, dem auch der gute Pedro entstammt.

Ich kann beim Vorlesen etwas üben, das mir im Alltag mit Kindern dient: meine Stimme bewusst einzusetzen. Es macht einen enormen Unterschied, ob ich laut und genervt „Runterkommen! Wir sollen schon längst losfahren!“ brülle oder mit meinen Händen vor dem Mund ein Megafon imitiere und die Botschaft wie eine Bahnhofsansage klingen lasse: „Achtung, Achtung! Fünf Minuten bis zur Abfahrt, bitte kommen Sie in die Garderobe!“

Der Nachwuchs ist mindestens so genervt wie ich, wenn das siebzehnte „Bitte geh deine Zähne putzen!“ erklingt. Stattdessen gibt es hier öfter einen Polizeieinsatz. Also keinen echten. Aber ich kann mich im Handumdrehen in Inspektor Putz von der Zahnputzpolizei verwandeln und verdächtige Personen im Haushalt kitzelnd festnehmen. Meistens werden sie umgehend zu zwei Minuten Freiheitsstrafe mit Zahnbürste im Mund verdonnert. Dabei bin ich so ernst, entschlossen und gleichzeitig komisch, dass den Kindern fast nur eine Wahl bleibt: Sie brechen in Gelächter aus und vergessen dabei jeden Widerstand, den sie vorher gerne geleistet hätten. Ein kluges Manöver, ich empfehle es wärmstens.

„Was ich sage und vor allem wie ich es sage, hat massiven Einfluss darauf, wie die Information bei meinem Gegenüber ankommt.“

Zugegeben: In so eine kleine Rolle zu schlüpfen, hilft nicht nur den Kindern. Es befreit auch mich selbst aus miserablen Stimmungslagen. Nicht immer, aber immer öfter. Wie wichtig das Sprechen ist, wird mir dann bewusst, wenn ich während einer Verkühlung oder nach einer durchgesungenen Nacht meine Stimme verliere, nur mehr hauchen kann und mich auf meine pantomimischen Fähigkeiten verlassen muss.

Klar, Worte sind nur ein Teil der Kommunikation. Viele Informationen bekomme ich auch über Mimik und Gestik. Was ich sage und vor allem wie ich es sage, hat dennoch massiven Einfluss darauf, wie die Information bei meinem Gegenüber ankommt. Es macht meinen Alltag als Mutter, aber auch als Frau und Partnerin ein ganzes Stück einfacher, bunter und lebendiger, wenn ich meine Stimme bewusst einsetze.

Übung macht die Meisterin

Wie ich das am liebsten übe? Ich schnappe ein Kind, dazu ein Buch und frag mich beim Vorlesen: Wie stelle ich mir vor, dass die Person klingt? Und das versuche ich einfach zu imitieren, weil es glücklicherweise kein Richtig oder Falsch gibt. Dabei kann ich mich lebendig fühlen, es fällt mir leichter, locker und humorvoll zu sein und nebenbei finde ich heraus, was ich alles mit meiner Stimme anstellen kann.

Ich bin ehrlich verblüfft, welche Töne ich da aus mir herausbringe, wenn ich als Harry Potter verzweifelt den Schutzzauber „Expecto Patronum!“ rufe, den französischen Sternekoch gebe und ein „Isch abe die Tisch gedeckt! Essen ist feeertisch!“ ins Wohnzimmer hinüber singe oder wie eine italienische Nonna „Avanti, avanti bambini! Wir sinda sson wieda su spääät!“ die Kinder zusammentrommle.

Ob ich den Kindern dabei peinlich bin? Sicher! Das gehört für mich zum Jobprofil eines Elternteils dazu. Muttersein ist manchmal ernst genug. Es lohnt sich für mich, mit ein wenig Geblödel samt einer Prise Humor den Alltag aufzupeppen. Das tut mir gut. Und meistens auch den Kindern. Und das Beste an der ganzen Sache: Ich werde besser gehört.

Schon wieder die gleiche Leier?

Es gibt wohl nichts Schlimmeres für ein Kind, als wenn ich wie eine pseudopädagogische, gefühllose und monotone Erwachsene klinge, der Dame aus dem Navigationsgerät zum Verwechseln ähnlich. Für ein Kind ist es wichtig, dass die Botschaft, die es bekommt, kongruent ist. Stimmig eben. Sonst entsteht ein Kurzschluss in der Informationsverarbeitung. Das gilt besonders für Kinder unter sechs Jahren, die entwicklungsbedingt ironische oder sarkastische Bemerkungen nicht verstehen.

Wenn ich dem Kind also grinsend „Das macht mich überaus wütend!“ sage, wird es irritiert sein. Genauso verkehrt ist es, lauthals „Jetzt ist hier mal Ruhe!“ ins Zimmer zu brüllen oder mit herunterhängenden Mundwinkeln und Grabesstimme zu behaupten „Natürlich spiele ich gerne zum siebten Mal ‚Tempo, kleine Schnecke‘ mit dir!“

„Kinder brauchen lebendige Eltern, keine Schaufensterpuppen!“

Kinder merken, wenn wir etwas nicht ehrlich meinen. In Beratungen höre ich von Elternteilen: „Ich sage es ihm eh zehnmal freundlich, irgendwann reicht’s mir halt und dann werde ich laut.“ Direkt, wie ich bin, antworte ich gern augenzwinkernd: „Die Kinder hören es, wenn es das erste Mal ernst gemeint ist.“ So eine Situation in der Beratung ist eine willkommene Gelegenheit für mich, um zu erforschen, welche Chancen für eine lebendige Kommunikation bereits genutzt werden und wo es noch Potenzial gibt. Mütter und Väter dürfen sich bewusst machen, welch wirkungsvolle Werkzeuge ihre Stimmen sind und wie sie diese im Alltag gekonnt einsetzen. Wenn ich möchte, dass meine Botschaft beim Kind oder einem anderen Menschen ankommt, achte ich auf Folgendes: Ich spreche klar, deutlich, mit fester Stimme, habe im besten Fall Blickkontakt, bin auf Augenhöhe und versuche, in meiner Stimmlage auch Gefühle und Befindlichkeiten zu transportieren. Das macht uns nahbar, lebendig und menschlich. Dadurch entsteht echte Verbindung und dann kann auch eine Information ankommen.

„Mit Kindern brauchen wir nicht perfektionistisch sein. Sie verzeihen uns Fehler, weil sie den ganzen Tag selbst welche machen.“

„Ist es erlaubt, gegenüber Kindern auch laut zu werden?“, wird oft gefragt. Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat darauf eine deutliche Antwort. „Natürlich ist es das, man darf heulen, schreien, alles Mögliche! Kinder brauchen lebendige Eltern, keine Schaufensterpuppen!“

Wir dürfen uns als Eltern zumuten, echt und gleichzeitig verspielt zu sein. Ein wenig Theater zu veranstalten und trotzdem glaubwürdig zu klingen. Authentisch zu sein und dies auch auszudrücken. Unsere Stimme hilft uns dabei, in diese Lebendigkeit zu kommen. Der einfachste Weg das zu üben, ist der Alltag mit Kindern. Mit ihnen brauchen wir nicht perfektionistisch sein. Sie verzeihen uns Fehler, weil sie den ganzen Tag selbst welche machen. Sie wollen gar keine fix und fertigen Eltern. Sie freuen sich, wenn wir neugierig, lernbereit und unvollkommen sind. Wie sie.

Also: Selbst wenn ich demnächst wieder über meinen französischen Akzent stolpere, weil ich gar kein Französisch kann, die plappernde Hermine wieder alles besser weiß oder der feurige Pedro meiner Freundin Verena portugiesisch-spanischen Kauderwelsch entlockt und sie sich dabei fast in die Zunge beißt, dann sorgt das bestimmt für eins: gute Stimmung und ein ganzes Stück Lebendigkeit im Alltag.

Foto: Marie Bleyer

Kerstin Bamminger

Psychologische Beraterin, Elementarpädagogin & Supervisorin

Web: kerstinbamminger.com
Mail: [email protected]
Instagram: @die.beziehungsweise

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  • Veröffentlicht: 01.03.2023
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