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04-05/24

So verrinnt das Leben

So verrinnt das Leben

Zwei Mädchen, die nicht so leicht Freundinnen werden, verbringen viele Nachmittage miteinander. Es ist immer Rike, die Martina aus der sicheren Werkstatt, weg von ihren Eltern, lockt: Rike hat viele ausgefallene Ideen, etwa ein Loch in die Wand des Toilettenhäuschens zu bohren und fortan Leute bei ihrem Toilettengang zu beobachten. Martina läuft weg, was geht Rike das Muttermal, das ihre Mutter am Hintern hat, an? Außerdem hat Martina Angst vor Schlangen, Rike klettert den größten Sauerkirschenbaum hoch: Dann ein Schrei, das Knacken von Ästen – stellt sich Rike schon wieder tot? Ist sie wirklich tot? Oder stellt sie sich nur tot?

Diese eine Szene taucht im Verlauf der Verknüpfungen der zahlreichen Erzählstränge immer wieder auf, sogar an Elenas 88. Geburtstag, den ihre beiden Töchter Renate und Martina so richtig schön mit ihr feiern wollen. Sie erzählt ihrem Enkel, dass sie lieber auf der Wiese verstreut werde als in einer Urne zu landen: Wie ist es, denkt das Geburtstagskind, wenn das Leben verrinnt. Schön, das Symbol der Sanduhr, wie hier Gramm um Gramm die Zeit verrinnt: Elena, das Kind, das gut im Kopfrechnen ist und keine Liegestütze kann, die junge Frau, die sich mit dem Augenbrauenstift einen Strich auf die Wade malt und so vortäuscht, feine Strümpfe zu tragen. Es geht ums Täuschen, ums Weiterkommen, ums Fliehen. Nach Georgien wäre sie gern mal gereist, hat es aber nie getan.

Warum hat ihr Mann das Bürgermeisteramt aufgegeben und begonnen, Bienen zu züchten? Jetzt gibt es Honig und Honigschnaps für Generationen im Keller, wer soll all diese Erinnerungen denn wegtrinken?

LeserInnen treffen in diesem Episodenroman bereits in der zweiten Szene – „Das Fest, 14. August 2012“ – auf  Elena, die mit ihrer Familie Geburtstag feiert. Doch da gibt es Daniel und seine Freundin Sasha, eine erfolgreiche Fotografin, während er in einer Bar Bier zapft. Doch, er zapft gern Bier und denkt über das Erwachsenwerden nach, darüber, wie er ein erfolgreicher Texter werden könnte, aha, erst einmal soll er einen Text kostenlos schicken: Aha! Neben Gesellschaftskritik – Ich-AGs, Vereinsamung, Altersvorsorge, alte Menschen in der Gesellschaft – bleibt noch der Blick auf vertrocknete Blumen, auf kleine Mädchen, die sich ihre Pyjamas trotzig aussuchen, um eine Mutter, die sich gerade neu zusammensetzt.

Daniel will Content Boy werden, das klingt doch irgendwie nach Call-Boy; Manja Kienbaum, Head of Talent Qcquisition bei The Village, hat sich bei ihm gemeldet:

„Wenn du am Morgen kommst, buchst du dir als Erstes deinen Workspace über das Webportal hier. Du kannst unter sieben verschiedenen Workspaces wählen. Weißt du, warum es sieben sind? Gott schuf die Welt an sieben Tagen, die sieben Weltwunder, die sieben Weisen, der siebte Himmel, sieben auf einen Streich, die sieben Berge, die sieben Zwerge. ... An dein Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Wärme und Nest, wie der Architekt es nannte, haben wir in World zwei gedacht. Das sind unsere Coffeepoints. (S. 127)“

Da kommt Sehnsucht auf nach Honigschnaps, nach Honig, an die langen Gespräche irgendwo, immer am richtig-falschen Ort, zum richtig-falschen Zeitpunkt. Richtig oder falsch? Da wird einer Millionär, weil er im Casino gewinnt; da träumt ein Kind davon, die Zeit anzuhalten, wirft eine Münze in den Brunnen: Alles steht still. Ach ja, der Brunnen, der war ja auch ganz am Anfang Thema.

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Vielfalt, Abgründe, Details, detailgenaues Erzählen, Generationen, Augenblicke, viel Alkohol, viele Abgründe, viele Charaktere, die am meisten mit sich selbst ringen, Klarheit, Verwobenheit von Schicksalen.

Die Autorin, Jahrgang 1975, lebt in Leipzig, hat viel ausprobiert, studierte Soziale Verhaltenswissenschaft und Soziologie, arbeitet aktuell als Ghostwriterin und Texterin. „Lostage“ ist ihr erster Rom.

Tina Pruschmann:

Lostage.

Roman.

Salzburg – Wien: Residenz Verlag 2017.

218 Seiten.

Christina Repolust

wurde 1958 in Lienz/Osttirol geboren. Sie schloss das Studium der Germanistik und Publizistik in Salzburg ab. Seit 1992 ist sie Leiterin des Referats für Bibliotheken und Leseförderung der Erzdiözese Salzburg und unterrichtet nebenbei Deutsch als Fremdsprache. Zudem leitet sie Literaturkreise und Schreibwerkstätten für Groß und Klein. Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.“

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  • Veröffentlicht: 23.08.2017
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