Die Grenzen zwischen Scham und Beschämung sind fließend, die Folgen von Beschämung aber für das ganze Leben gravierend. Traumatherapeutin Silvia Zanotta plädiert für einen sensiblen Umgang mit einem heiklen Gefühl.
Dagmar Leidinger: Sie beschäftigen sich schon sehr lange mit dem Thema „Scham“. Wozu brauchen wir dieses unangenehme Gefühl überhaupt?
Silvia Zanotta: Die Scham spielt eine wichtige Rolle in der kindlichen Entwicklung, und sie hat eine Anpassungsfunktion in der Gemeinschaft. Mir gefällt der Ansatz von Peter Levine, dem Begründer der „Somatic Experiencing®“-Traumatherapie. Er sagt, dass die Scham eine solch intensive Emotion sein muss, damit gewisse Dinge wirklich verinnerlicht werden. Ein Beispiel: Wenn Kinder mit circa 18 Monaten beginnen, die Welt zu erkunden, müssen ihre Eltern ihnen in Gefahrensituationen ganz klar Grenzen aufzeigen. Etwa, dass es nicht geht, auf die Herdplatte zu greifen oder am Balkongitter herumzuklettern. Die Klarheit – und vielleicht auch Schärfe –, mit der dies gesagt werden muss, ruft beim Kind zuerst ein Erschrecken, dann ein Zurückziehen, Sichabwenden und Verbergen hervor, einen Vorläufer der Scham. Man kann dieses Phänomen übrigens auch sehr gut bei Tieren beobachten. Wenn kleine Elefanten etwas tun, das für die Herde gefährlich ist, werden sie sofort gemaßregelt. Die Kleinen senken daraufhin den Kopf zu Boden und gehen in eine typische Scham-Physiognomie.
Scham als „Anpassungsfunktion“ klingt positiv. Wie kommt es, dass viele Menschen trotzdem eher mit Schamgefühlen kämpfen? Viele kennen beispielsweise das unangenehme Gefühl, das sich einstellt, wenn sie vor vielen Menschen sprechen sollen.
Was Sie ansprechen, ist das Ergebnis von Beschämung. Kommen wir zurück zum Beispiel des Kindes, das etwas Verbotenes oder Gefährliches tut. Reagieren die Eltern auf das Verhalten des Kindes mit Beziehungsabbruch, indem sie das Kind hart strafen oder wegschicken, so lernt das Kind nicht: „Das, was ich hier tue, ist nicht okay“, sondern: „Ich bin als Ganzes nicht okay“. Geschieht dies regelmäßig, führt das zu einer Abwertung, die das Kind verinnerlicht, und es beginnt, sich selbst abzuwerten. Es sind diese Prägungen, die uns im Erwachsenenalter dann immer noch blockieren. In der Therapie ist es daher ganz wichtig, zu verstehen: „Ich wurde beschämt, das kommt von außen, das gehört nicht zu mir.“ Und: „Das ist nicht okay, ich hätte es verdient geliebt zu werden.“ Die toxische Scham ist für unseren Organismus fast schlimmer als sterben.
Neben Scham und Beschämung gibt es auch noch die Schuld. Wo sehen Sie den Unterschied?
Wenn ich mich schuldig fühle, habe ich immerhin eine Art von Verantwortung. Scham hingegen wird ausschließlich als Schwäche erlebt. Schuld kann man lindern, man kann sich ent-schuldigen. Alles, was mit Selbstabwertung zu tun hat, hat immer auch mit Scham zu tun. Man möchte sie verstecken und sich nicht damit befassen.
Medienformate wie Castingshows oder gewisse Talksendungen haben die kollektive Beschämung gesellschaftsfähig gemacht, ganz zu schweigen von Angriffen auf einzelne Personen oder Gruppen über soziale Medien. Was sagt das über unsere Lebensweise?
Wir leben sicherlich in einer Beschämungskultur. Andererseits gab es bereits im Mittelalter den Pranger. Das Phänomen der Schaulustigen hat es immer gegeben. Menschen haben immer schon gerne zugesehen, wie andere öffentlich gequält oder beschämt wurden. Das bedient auch gewisse psychologische Prinzipien, zum Beispiel, sich gemeinsam über etwas aufzuregen, auch nach dem Motto „Wir gehören dazu, die nicht“. Was sich verändert, sind die Themen.
Welche sind die Schamthemen des 21. Jahrhunderts?
Meiner Meinung nach ist die Sexualität enttabuisiert, dafür wurde die Religion tabuisiert. Wer spricht heute noch über Religion? Für die meisten Menschen ist das schlichtweg nicht mehr wichtig oder auch peinlich.
Gibt es auch Geschlechterunterschiede bei den Themen?
Ja, ich glaube, Männer schämen sich wegen anderer Dinge als Frauen, weil auch die Erwartungen an die Geschlechter verschieden sind. Eine Frau schämt sich, weil sie nicht die ideale Figur hat, ein Mann schämt sich eher, wenn er nicht männlich oder gar schwach ist. Bei Männern geht es weniger um Äußerlichkeiten, wobei sich das auch zu verändern beginnt. Manchmal neigen Männer, vor allem aus anderen Kulturkreisen, dazu, sich in ihrer Ehre gekränkt beziehungsweise beschämt zu fühlen.
Stefan Marks schreibt in seinem aktuellen Buch „Scham – die tabuisierte Emotion“, dass extreme Taten wie „Ehrenmorde“ und Selbstmordattentate auf dem Mechanismus von Scham und Schamabwehr beruhen. Wie funktioniert die „Abwehr von Scham“?
Prinzipiell gibt es verschiedene Formen, die Scham abzuwehren. Ich kann mich beschämt zurückziehen, kollabieren oder mich verstecken; es gibt aber auch die Möglichkeit, dass ich mich wehre, indem ich aggressiv, arrogant oder zynisch werde und so versuche, das Gegenüber zu beschämen. Es kann das Ritual einer ganzen Gesellschaft sein, zurückzubeschämen oder zurückzuschlagen. Scham kann dann überhaupt nur ertragen werden, wenn zum Gegenschlag angesetzt wird.
Wie lässt sich dieses kollektive Verhalten verändern?
Das ist sehr schwer, denn hier handelt es sich ja um Glaubenssysteme. Ich denke, Veränderung gelingt nur, wenn Menschen auch andere Kulturen kennenlernen, ansonsten ist ihr System ja die ganze Welt für sie. Darum ist es auch so schwierig für junge Leute, die zum Beispiel in Westeuropa in zwei kulturell verschiedenen Bezugsgruppen leben. Ich denke, diese Jugendlichen erleben eine große Verwirrung. Für sie ist die Gefahr, beschämt zu werden, wenn sie sich nicht an die Regeln der Familie halten, sehr groß. Hier hat Scham eben auch diese Anpassungsfunktion, die sichert, dass sie weiter bei der angestammten Gemeinschaft bleiben. Ansonsten werden sie ausgestoßen; und ausgestoßen zu werden ist eigentlich das Schlimmste für den Menschen. Früher hat das den Tod bedeutet; emotional empfinden wir das immer noch so wie unsere Vorfahren aus der Steinzeit.
Dieses Interview ist in der September-Ausgabe 2019 erschienen. HIER können Sie das Heft nachbestellen!
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