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Familie
11/12/24

Schäfchen zählen

Schäfchen zählen

Ich habe Mathematik immer gehasst. Doch inzwischen liebe ich sie, und die Mathematiker noch dazu. Sie bescheren mir einen ruhigeren Schlaf. Ein Stück weit zumindest.

Wir werden alle zu Poppern. Führen Listen und Tabellen, rechnen, kalkulieren und werten aus. Ich habe Mathematik gehasst, war darin eine Niete. Schlaflose Nächte und Nervenflattern vor den Schularbeiten. Die Matura habe ich knapp bestanden und mich seither in Sachen Zahlen auf das Niveau Taschenrechner begeben.

Aber nun tritt Niki Popper auf, der Professor Bienlein von der Technischen Universität Wien. Verstrubbelte Haare, dichter Bart, hellwache Augen hinter den runden Brillen. Er und seine Kollegen präsentieren mathematische Prognosen und Corona-Szenarien für die Nation. Mit aller Vorsicht, versteht sich, darauf legen die Wissenschaftler Wert: Wie die Kurven wirklich verlaufen werden, liegt mit an uns, die wir die Maßnahmen der Regierung beherzigen.

Die Türen zum Elfenbeinturm der technischen Fakultäten unserer Hochschulen öffnen sich in diesen Wochen weiter als zuvor. In diversen TV-Sendungen sehen wir Genies, und das sind sie für mich, in ihren Büros sitzen, hinter sich riesige Monitore. Es gelingt den Herren, ihre abgehobenen Berechnungen auf den Boden unserer Realität zu holen und sie so zu vermitteln, dass wir Erdenbürger sie verstehen – und ihnen sogar nacheifern.

Zwischen acht und neun Uhr früh warte ich auf die aktuellen Daten des Gesundheitsministeriums und trage sie in meine Tabelle ein: die Zuwächse an Infizierten in Österreich, in Wien, wo ich lebe, und in Tirol: Dort ist der Großteil meiner Familie daheim. Zuletzt noch die Spalte mit den Verstorbenen. Dann beginnt die Rechnerei. Nach einigen Fehlversuchen schaffe ich es inzwischen, den täglichen Zuwachs in Prozenten darzustellen und so ein eigenes Bild von der Lage zu gewinnen. Womit ich nicht allein bin: Meine 85-jährige Mutter macht es so, meine Freundin Elisabeth und unser lieber Rainer, der sich dafür sogar eine Excel-Tabelle eingerichtet hat. Wir poppern und tauschen uns darüber aus.

Eine Marotte? Das wohl auch. Vor allem aber gibt mir die morgendliche Bilanzierung etwas Sicherheit: Die Flut bedrohlicher Zahlen, die im Netz und in den Nachrichten herumschwirren, haben mich oft bis in die Träume verfolgt. Wahrscheinlich ist es eine Milchmädchenrechnung, aber meine Tabelle rückt da manches, was nicht einschätzbar war, zurecht. Schwarz auf weiß.

Wann ruht sich Niki Popper aus? Er ist fast Tag und Nacht für uns da. Ich liebe Mathematik und Mathematiker. Sie lassen mich – öfter als zuvor zumindest – schlafen, ohne Schäfchen zählen zu müssen. Wer hätte das gedacht?

Susanne Schaber

lässt sich im Morgengrauen vom Vogelgezwitscher inspirieren und denkt vor dem Einschlafen noch gerne an Reisen und Abenteuer im Kopf, um am nächsten Tag beherzt ins Leben zu springen.

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  • Veröffentlicht: 02.04.2020
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