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Familie
11/12/24

„Komm, lass uns streiten lernen!“

„Komm, lass uns streiten lernen!“

In der Familie, in der Firma, in Fernsehdiskussionen oder auf dem Fußballplatz: Überall wird gestritten, doch gepflegte Debatten gibt es selten. Oft gehen uns die Argumente aus und Gefühle mit uns durch. Anregungen zu einer gelungenen Streitkultur.

Auf welches Niveau streitende Menschen sinken können, weiß Sara Telek nur zu gut. Zückt die Fußball-Schiedsrichterin bei Regelvergehen die gelbe oder rote Disziplinarkarte und verweist unfaire Spieler vom Platz, wird ihre „unpopuläre Entscheidung“ von der betreffenden Mannschaft und dem Trainer schnell einmal mit Verachtung gestraft – und von aufgebrachten Fußballfans, die mit Bierbechern enthemmt auf der Tribüne grölen, mit kollektivem Schmähgesang und wüsten Beschimpfungen.

Als Unparteiische hat Telek gelernt, Streitsuchenden mit Ruhe, Respekt und ihrer natürlichen Autorität zu begegnen. Denn nur klare Grenzen gewährleisten „Fair Play“. Zu wissen, dass sie laut werden kann, bringe ihr Vorteile, sagt sie. Als sie noch ein Kind war, waren sich ihr Bruder und sie öfter in die Haare geraten. Je größer und stärker die beiden wurden, umso mehr verlagerten sich die geschwisterlichen Raufereien in einen verbalen Schlagabtausch. Telek schätzte die Reibereien dennoch, denn bei jedem Konflikt konnte sie „die Kraft und Energie spüren“, die in ihr steckt.

Klare Grenzen setzen

Der Lustrausch, der entsteht, wenn der Körper Konfrontationen als bedrohlich wahrnimmt und Adrenalin und Testosteron ausschüttet, sei von allein kaum zu bändigen gewesen, sagt sie. Oft ging daher Teleks „ruhiger, harmoniebedürftiger Vater“ dazwischen, um zu besänftigen und einen Friedenszustand herbeizuführen – im Wissen, dass ein guter Streit mit einer Einigung endet, nicht mit Sieg und Niederlage.

„War ich schuld, verlangte Papa, dass ich mich versöhne. Das fiel mir immer sehr schwer.“

In ihrer Mutter fand Telek den nächsten Reibebaum: „Weil Mama früher sehr temperamentvoll war und die Konfrontation oft forderte und brauchte, stritten wir manchmal so sehr, dass wir uns danach tagelang anschwiegen und ignorierten, außer wir brachen schon während unserer Schreiduelle in Lachen aus.“ Gelang das nicht, stieg Telek trotzig aus und suchte Rückzug, Flucht und Einsamkeit. Abgesehen von der Streitregel „Versöhnen!“ hatte man ihr im Elternhaus keine weitere beigebracht. Auch nicht in der Schule, wo Telek ihre Schlagfertigkeit nur noch weiter perfektionierte. „Vernünftiges Diskutieren“ lernte sie erst mit ihrem Freund, der mit Humor gut deeskalieren kann. Ein überraschender Scherz kann nämlich die aggressive Dynamik unterbrechen und den gesamten Konflikt entschärfen. 

Generell sei die Familie der erste Ort, an dem wir Streiten lernen, sind sich PsychologInnen einig. Hier sollte Platz für banale Meinungsverschiedenheiten und hemmungslose Wutausbrüche sein. Eltern tragen also Wesentliches zum Erlernen einer Streitkultur bei. „Kinder lernen durch Nachahmen. Schlimm ist nicht, wenn sie ihre Eltern streiten sehen. Schlimm ist, wenn Konflikte unter den Teppich gekehrt oder heimlich ausgetragen werden. Das Kind hat dann keinerlei Vorbild“, meint Monika Schwaighofer von der „Streitschule Salzburg und Wien“. Kinder sollten unbedingt erleben, dass man Probleme „ausreden“ und so gute Lösungen finden kann. Und sie sollten auch spüren, wie weit sie selbst gehen können.

Dispute mit Geschwistern oder SpielkameradInnen sind da hilfreich. „Mit dem Kindergarten-Eintritt erweitert sich das soziale Umfeld des Kindes. Es muss lernen, sich auch außerhalb der Familie in schwierigen Situationen zurechtzufinden“, so Schwaighofer, der es am „allerliebsten wäre, Streitkultur als Unterrichtsfach zu etablieren“. 

Ärger auf gesunde Weise ausleben

Durch Dispute lerne ein Kind nämlich, seine Bedürfnisse und Meinungen gegen Widerstände zu verteidigen und durchzusetzen, eine eigene Identität, Rückgrat und Mut zu entwickeln. Außerdem lebe es auf gesunde Weise Gefühle wie Ärger und Wut aus und gewinne Vertrauen, dass es trotz Auffassungsunterschieden vom Gegenüber angenommen und geliebt wird.

Vor allem in der Adoleszenz, wo eine Abnabelung von den Eltern beginnt, ist regelmäßiges Kräftemessen wichtig. So mühsam dies für Halbwüchsige und Erwachsene manchmal sein mag, Kollisionen signalisieren Pubertierenden:

„Ich beschäftige mich mit deinen Ansichten, du bist mir nicht egal.“

Wer indes in einem Zuhause aufwuchs, wo Emotionen und Zwist im Keim erstickt wurden oder nur eine Person das Sagen hatte, kann sich als Erwachsener seine kindlichen Ohnmachtsgefühle bewusst machen und die verteufelte „Knatschzone“ in einem neuen Licht betrachten.

Ein Streit birgt positive Aspekte

Brigitte Brandstötter begleitet solche Prozesse professionell. In ihrer Praxis coacht die Kultursoziologin, Kommunikationswissenschaftlerin, Philosophin, Segellehrerin und vierfache Mutter Menschen, die Kurs auf ein gelingendes Leben nehmen möchten. Inspirierend für ihre Arbeit sind der Ansatz des Utilitarismus, „der eine größtmögliche Zahl von Menschen vor dem größtmöglichen Schaden bewahren wollte“, aber auch die alten Philosophen selbst, die ihre „Streitschriften“ zur Kunstform erhoben und nicht zwecks Demonstration ihrer Überlegenheit stritten, sondern zwecks „Erlangung von Konsens“.

„Sokrates etwa erkannte, dass These und Antithese gemeinsam schließlich eine Synthese ergeben. Im Alltag kann sich daher jeder beim Streiten fragen: ‚Ist das, was ich weiß, wahr? Was ist wirklich? Und was sind die Folgen?‘“, erklärt Brandstötter. Damit könne man sich von alten Glaubensmustern frei machen. Für die meisten von uns sei ja schon der Begriff „Streit“ absolut negativ besetzt. Dabei berge ein Zwist eine Fülle an positiven Aspekten. Denn oft erführen Streitende erst in dieser Situation, wo eigene und fremde Grenzen lägen:

„Wer einen Streit vom Zaun bricht, signalisiert: ,Bis hierher und nicht weiter.'“

Werden in einer Gesellschaft persönliche Grenzen, aber auch öffentliche Regeln, Sitten, Gesetze et cetera missachtet, befeuert das einen Streit und führt zum Tabubruch. Insofern ist Streit eine Orientierungshilfe für angemessenes Verhalten.“

Erkennen und Stopp sagen

Entscheidend für das Gelingen des Miteinanders in einer Gesellschaft ist eine konstruktive Streitkultur. Die beginne bei einem selbst und gelinge unter anderem schon damit, dass man sich das eigene Sprachmuster bewusst mache: „Wichtig ist sachliches Formulieren und die Vermeidung von Pauschalurteilen. Ein ‚Du bist immer so …‘ lässt beim anderen nur die Alarmglocken schrillen“, konstatiert Monika Schwaighofer.

Auch unbewusste Beleidigungen, Zynismus oder ein Sichüber-den-anderen-Stellen seien für Konfliktlösung nicht geeignet. All jenen, die sich im Streit lahmgelegt oder ohnmächtig fühlen, rät sie: „Zuerst gilt es, diese intensive Emotion der Hilflosigkeit zu erkennen, dann ‚Stopp‘ zu sagen und um eine Unterbrechung oder Vertagung zu bitten.“

Dass sich gleichzeitig bei vielen jungen Menschen eine Streit- und Debattierfaulheit breitmacht und manche nur noch still aufbegehren – durch Flucht in Süchte oder virtuelle Welten – statt durch lautes Rebellieren wie etwa einst die 1968er-Generation, überrascht Brandstötter nicht. Diese Friedensliebe führt sie auf die pazifistische Erziehung zurück und fehlende elterliche Autorität, an der sich Junge reiben könnten. Ein Ventil, um natürliches Aggressionspotenzial abzubauen, sei mittlerweile der Konsum von Computerspielen mit gewalttätigem Inhalt.

Grenzen im Job

Wer nie gelernt hat, zu streiten, stößt auch im Job schnell an seine Grenzen. Denn gestritten wird natürlich auch am Arbeitsplatz – und für die Wirtschaft kann sich mangelnde Konfliktkultur zum echten Problem auswachsen. MitarbeiterInnen, die selbst einem autoritären Chef gegenüber ihre Meinung sachlich vertreten können, sind da ein Gewinn. „Sie haben Profil und bringen dem Unternehmen mehr, als wenn sie jeden Konflikt meiden. Da ist es natürlich auch an den Vorgesetzten dieser Welt, das zu erkennen“, so Schwaighofer.

Dass „Konfliktkultur“ besser keine leere Worthülse der Unternehmensleitbilder bleibt, sollte man auf Unternehmerseite spätestens seit den ersten Studien zu den Konfliktkosten wissen. In einer dieser Untersuchungen (2009) hat das Wirtschaftsprüfungsunternehmen KPMG den Anteil der zwischenmenschlichen Konflikte an den Personalkosten mit bis zu 25 Prozent beziffert. Eine Tatsache ist demnach auch, dass eine Führungskraft 30 bis 50 Prozent ihrer Arbeitszeit für Konfliktbearbeitung einsetzt. Weniger Konflikte zu bewältigen gibt es wohl dann, wenn vorher an der Art und Weise gearbeitet wurde, wie Entscheidungen getroffen werden.

Entscheidungen erklären

Dann komme es darauf an, ob und wie diese Entscheidungen kommuniziert würden. Die Führungskraft sei auch dafür verantwortlich, dass getroffene Entscheidungen von allen mitgetragen würden. „Der Zug muss mit allen Waggons in den Zielbahnhof einfahren können. Die Praxis zeigt aber, dass man oft einige Waggons auf der Strecke verliert und das nicht einmal bemerkt“, sagt Wagner und betont einmal mehr die Bedeutung von wertschätzender Kommunikation gerade im Streitfall. Denn ganz egal, ob man sich gerade mit der Kollegin, dem Lebenspartner, dem Nachwuchs oder einer Freundin in den Haaren liegt: Durchatmen, zuhören, sachlich argumentieren und eine klare Haltung helfen im Sinne gelebter Konfliktkultur bestimmt.

„Komm, lass uns streiten lernen!“

Drei Fragen an Monika Schwaighofer, Streitschule Salzburg und Wien
Monika Schwaighofer ist promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin und ausgebildete Mediatorin und hat 2004 die Streitschule Salzburg und Wien gegründet. www.streitschule-salzburg.at

Monika Schwaighofer ist promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin und ausgebildete Mediatorin und hat 2004 die Streitschule Salzburg und Wien gegründet.

Was macht die Streitschule?
Die Streitschule arbeitet präventiv, das Ziel der Einzel- oder Gruppentrainings ist es, Sicherheit im Umgang mit Konflikten zu gewinnen. Die Themen reichen von Beziehungskonflikten bis zu Streitereien im Job. „Wenn Beleidigungen, Verletzungen und Aggressionen im Raum sind, ist die Erde bereits verbrannt. Dabei gäbe es vorher viele Chancen für gute Lösungen“, sagt Monika Schwaighofer, Gründerin der „Streitschule Salzburg und Wien“.

Wie streite ich „richtig“?
Beim „richtigen Streiten“ geht es nicht um die große Verhandlungsführung, sondern um innere Klarheit und eine wertschätzende Grundkomponente. „Entscheidend ist die ehrliche innere Haltung! Will ich überhaupt eine Lösung für den Konflikt? Oder will ich einfach nur recht haben?“, bringt Schwaighofer zwei weitere Ingredienzien für Streitkultur zur Sprache: Ehrlichkeit und Selbstverantwortung.

Was braucht’s für eine gute Streitkultur?
„Das Um und Auf ist die Selbstklärung. Es geht darum, sich vor jedem Konfliktgespräch klarzumachen: ,Worum geht es eigentlich, was sind meine Gefühle und was will ich vom anderen?‘ Damit schaffe ich Sicherheit und Struktur“, erklärt die Streitexpertin. Der nächste Punkt sind die Wortwahl und das Bewusstsein dafür, dass gerade in wenig angenehmen Situationen die klare und wertschätzende Sprache umso wichtiger ist. „Und zum Dritten geht es um bedingungsloses, zumindest kurzzeitiges Zuhören! Wenn ich vorbereitet bin, gelingt das recht entspannt.“

Weitere Informationen: www.streitschule-salzburg.at

Streiten kann doch jedes Kind, oder?

Sechs ExpertInnen-Tipps für eine entlastende Konfliktbereinigung und besseres Verstehen.
  1. Ärger kundtun ist wichtig. Temperament, Reife und Interesse entscheiden, wie Streits ausgefochten werden. Bedeutsam für einen guten Ausgang ist gegenseitiger Respekt.
  2. Ein günstiges Streit-Setting ist ein „neutraler Boden“. Keiner hat hier Heimvorteil.
  3. Ein Konflikt sollte bald geklärt werden! In wichtigen Streitfragen sollten sich alle Parteien Zeit nehmen und geben. Faule Kompromisse bringen keine Lösung.
  4. Die goldene Streitregel ist:  „Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg auch keinem andern zu.“ Sie gilt als Grundregel für moralisches Verhalten.
  5. Demütigungen, Anschuldigungen und Unterstellungen sind verboten. Auch bei nahestehenden Menschen, bei denen die Hemmschwelle für Angriffe tendenziell niedriger ist als bei Fremden. Wird man selbst zum Sündenbock, ist es ratsam, diese Rolle sofort zurückzuweisen. Auch Rechtfertigungen sind fehl am Platz, denn sie schwächen.
  6. Auf Konfliktgespräche kann man sich vorbereiten: Welcher Mensch kann mich mit welchen Sätzen aus der Fassung bringen? Die Antwort darauf schafft innere Klarheit, und man kann diese Themen in Friedenszeiten mit den anderen auch besprechen.
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  • Veröffentlicht: 04.01.2022
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