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04-05/24

Brauchen wir noch religiöse Rituale?

Brauchen wir noch religiöse Rituale?

Viele haben sich verabschiedet. Gottesdienste sind für sie eine fremde Welt geworden. Kinder wachsen nicht mehr in die Welt der Gesänge, Gebete und Rituale hinein. Fehlt etwas oder nicht?

Mir ist noch gut in Erinnerung, wie ich als Kind versucht habe, neben Mutter oder Großmutter in der Kirchenbank sitzend, die Gebete mitzubeten und die Lieder mitzusingen. Vieles habe ich nicht verstanden, sondern nur lautmalerisch mitgemacht. Aber ich war stolz, wenn ich wieder ein Stück synchron mit den anderen bewältigen konnte. Bis heute ist in mir ein jederzeit abrufbarer Fundus an Kirchenliedern und Gebeten angelegt. Ich kann sie auswendig.

Wie viele religiös sozialisierte Menschen habe auch ich Phasen der Abgrenzung und des Verstummens mitgemacht. Was soll das alles? Ist das nicht alles leere Hülle? Geplapper, das automatisch und herzlos daherkommt? Ganz zu schweigen von der fundamentalen Kritik am Macht­apparat der katholischen Kirche, an ihren selbstgewissen patriarchalen Anmaßungen, an der Lieblosigkeit sogenannter frommer ChristInnen. Vielleicht hat es diese Distanz gebraucht.

Heute staune ich gelegentlich über die Fülle elementarer Lebensweisheiten, die in eine einfache Liturgie gepackt sind. Das beginnt mit dem Singen, das nicht nur allen musikalisch ganz unterschiedlich Begabten erlaubt, sich zu äußern. Es ist auch ein richtiger Seelenöffner. Lieder sind poetische Schätze, vertonte Gedichte, die unser Gemüt erweichen. Wir spannen uns sozusagen über die Welten, die inneren und die äußeren, aus.

Ein guter Gottesdienst ist so etwas wie eine regelmäßige Seelenwartung. Wir reservieren uns eine Zeit dafür, nachzudenken, über das, was gelungen ist und wo wir selbst etwas schuldig geblieben sind. Wir machen uns bewusst, was uns geschenkt ist, wofür wir dankbar sein können und an wen wir unseren Dank richten können. Wir lassen uns sozusagen symbolisch immer wieder verwandeln, wir werden von Menschen, die tendenziell selbstbezogen sind, zu solchen, die mit anderen ihr Brot teilen. Wir hören alte Geschichten und wissen, dass wir eingebunden sind in einen langen Strom der Suchenden.

Wir sind nicht die Ersten, die fragen, was das ist, was wir Leben nennen, wir werden nicht die Letzten sein. Im Gottesdienst stehen wir auf, knien nieder, reichen uns die Hand, berühren im Kreuzzeichen Stirn, Herz und Thymusdrüse, drücken mit unserem Körper aus, was es braucht, um lebendig zu sein. Am Ende gehen wir mit einem Segen „hin in Frieden“. Ein Blick in die Welt macht diesen Wunsch zumindest verständlich.

Wir wurden als Kinder rigide angehalten, in der Kirche ruhig zu sein und am Programm der Erwachsenen teilzunehmen, aber heute sehe ich das nicht mehr negativ. Eher habe ich das Gefühl, einen spirituellen Schatz für schlechte Zeiten mitbekommen zu haben. Was so weit geht, dass ich den Rosenkranz bete, wenn ich nicht schlafen kann, und verlässlich wieder einnicke.

Die Rituale des Glaubens sind nicht nur individuell interessant, sie stiften auch Gemeinschaft. Können Events aller Art das ersetzen? Gottesdienste sind konsumfreie Zonen. Sie frönen nicht dem Hedonismus. Im Gegenteil. Zu teilen, etwas abzugeben, zu spenden für ein „Vergelts Gott!“ gehört fix zum Ritual.

Wenn ich Kinder in meinem Umfeld ansehe, die weitgehend ohne die eingeübten religiösen Rituale, ohne die Frage, ob wir auf Größeres bezogen sind, aufwachsen, frage ich mich, was sie halten wird, wenn es im Leben eng wird. Welche Schätze werden sie abrufen können? Welche Lieder werden Menschen künftig miteinander singen? Oder bleibt nur das passive Hören, kein Spüren der eigenen Stimme, kein Einschwingen in eine Gemeinschaft? Was ist mit den Gedichten, die vermitteln, was weder rational noch wissenschaftlich sagbar ist? Gerade zu Weihnachten ist die Sehnsucht nach Geborgenheit groß. Wir suchen sie vor allem in der Familie, in den Ritualen der kleinen Gemeinschaft. Nährt uns das wirklich als ganze Menschen? Ich habe meine Zweifel.

Christine HaidenChristine Haiden kann mit etwas Abstand den Ritualen einer kirchlichen Liturgie ­wieder einiges abgewinnen.

Weihnachten: Liturgie einmal jährlich

Die Zeit um den 24. Dezember ist für viele, auch ehemalige Mitglieder der christlichen Kirchen, eine Zeit der Rituale. Von Feiern im Familien- und Freundeskreis bis hin zu den vorweihnachtlichen Punschstandbesuchen gehört vieles „einfach dazu“. Rituale sollen durch äußere Abläufe Gefühle und Stimmungen anregen. Die religiösen Rituale von Weihnachten gruppieren sich um ein Geheimnis. ChristInnen bezeichnen es als „Menschwerdung Gottes“: ein rätselhafter Vorgang, der seit Jahrhunderten theologisch, poetisch, mit Gesängen und Gesten interpretiert wird. Das Licht in der Dunkelheit, die Lieder von der Stillen Nacht, die Geschenke des Christkinds und vieles mehr sind Traditionen geworden. Trotzdem nimmt die Zahl derer, die regelmäßig an liturgischen Feiern teilnehmen, stetig ab. Häufig wird die regelmäßige religiöse Übung als Einschränkung der kargen Freizeit empfunden, zudem hindert viele die unverständliche Kirchensprache. Die fehlende Modernisierung der katholischen Kirche hat die Hürde für eine Teilnahme vielerorts erhöht.

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  • Veröffentlicht: 01.12.2019
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