Aktuelle
Ausgabe:
Nahrung
09/24

Raus aus dem Hamsterrad!

Raus aus dem Hamsterrad!

Die Vorstellungen von Glück und Erfüllung sind individuell sehr verschieden. Trotzdem gibt es feste Grundsätze, die über die Einzelnen hinweg gelten. Eine Weisheit gilt dabei fast immer: Das gute Leben besteht im Loslassen.

Das gute Leben ist für jede und jeden etwas anderes. In den letzten Wochen habe ich eine kleine Umfrage gestartet und alle möglichen Menschen gefragt, was sie für das gute Leben halten.

So wie es im Märchen nur drei Wünsche gibt, durften die Befragten mir nur die drei Dinge nennen, die für sie die wichtigsten sind. „Familie, mein Hamster, mein Kuscheltier“, sagte die neunjährige Marie, „Kommunikation, mein Hund, Musik“, war die Antwort der 65-jährigen Pensionistin Marlies. „Wach sein, ruhig sein, gesund sein“, nannte Roman (47) wie aus der Pistole geschossen seine Weisheit.

Roman ist mein Friseur, er macht viel Yoga und schnitt gerade sehr kniffelig an meinen Haaren herum, als er die Antwort gab.

Ganz anders wiederum Roswitha (53), eine gestandene Professorin, sie fand „gutes Essen, faule Tage, geistige Anregung“ am wichtigsten. Den Vogel, finde ich, schoss Hanna ab, „Inspiration, Geborgenheit, Freiheit“, sagte die 19-jährige Musikerin mit einem leichten Lächeln, und nicht vergessen darf man Tilman (7), für den „zu Hause sein, spielen, malen – ganz sicher malen“ das gute Leben ausmacht.

Illustration Liebe ist...Was wir fürs gute Leben brauchen

So verschieden waren die Antworten, so weit auseinander dann aber doch wieder nicht. Manche Bedürfnisse kamen sehr häufig vor: Zeit haben, gesund sein, lieben und Freunde haben, inhaltliche Erfüllung bei der eigenen Tätigkeit, all das rangierte ziemlich weit oben.

In einer anderen Kultur oder zu einer anderen historischen Zeit hätte die Umfrage vermutlich anders ausgesehen, vielleicht hätte ich Antworten bekommen wie „Satt sein, Zugang zu sauberem Wasser, liebende Eltern“ oder „In Frieden leben, gesunde Kinder, Arbeit haben“ oder „Feinde besiegen, Ruhm ernten, frei sein“. „Keine Angst haben müssen“ wäre auch eine würdiger Wunsch für das gute Leben oder die Suche nach etwas, das uns übersteigt, das Streben nach Kunst, nach Weisheit, nach Gott.

Das gute Leben definieren wir nach dem, was wir bereits haben und nicht verlieren wollen, oder nach dem, was wir nicht haben und dringend brauchen. Es hat immer mit Bedürfnissen zu tun, und eine lange Diskussion dreht sich darum, was denn überhaupt die wahren Bedürfnisse sind. Kann es fehlgeleitetes Begehren geben? Wer will darüber urteilen?

Eine Sache der Ethik

Aus zwei Gründen ist die Frage nach dem guten Leben heute wieder besonders wichtig. Einmal müssen wir uns überlegen, was denn gutes Leben eigentlich bei uns – in den reichen Konsumgesellschaften – heißt. Die Antwort könnte lauten, dass das Gute hier eher im Weglassen besteht, im Nichttun viel eher als im Tun.

Zweitens ist es nötig, daran zu erinnern, dass das gute Leben nicht nur eine Sache des persönlichen Geschmacks ist, auch wenn es zunächst so aussieht. Ein sehr berühmter Ausspruch des Philosophen Theodor W. Adorno heißt: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Wir sind durch und durch soziale Wesen, und wenn die Dinge im Allgemeinen falsch laufen, können wir persönlich zwar zufrieden sein, aber kein wirklich gutes Leben führen. Denn das Wort „gut“ bedeutet ja nicht nur „angenehm, schön, genussvoll“, sondern auch „wahr und richtig“. Es geht beim guten Leben um das richtige, das rechte Leben. Damit wird es zu einem Thema der Ethik und der Politik, nicht der Psychologie.

Weniger arbeiten als Schlüssel zum Glück?

Einen ethisch begründeten Entwurf für das „gute Leben“ haben im Frühjahr 2014 Robert und Edward Skidelsky mit ihrem Buch „Wie viel ist genug?“ vorgelegt. Die Autoren sind Vater und Sohn. Robert Skidelsky, der Vater, ist Wirtschaftswissenschaftler, Edward Skiedlsky, sein Sohn, Professor für Philosophie in Großbritannien.

„Warum arbeiten wir eigentlich noch so viel?“, fragen die beiden Autoren. Schließlich hatte der berühmte Ökonom John Maynard Keynes schon im Jahr 1930 vorausgesagt, dass der technische Fortschritt uns freier machen werde und die Menschen im Jahr 2030 höchstens noch 15 Stunden in der Woche arbeiten müssten. Wenn Maschinen für uns schuften, können wir uns den wichtigen Dingen des Lebens zuwenden.

Offenbar ist das aber nicht eingetreten, wir werkeln weiter, selbst für Hausarbeit wenden wir heute eine halbe Stunde mehr auf als im Jahr 1961, berechnen die Skidelskys. Wie in einem sinnlosen Wettlauf wird das, was wir auf der einen Seite an Zeit gewinnen, auf der andern wieder weggefressen.

Illustration Glücksschwein

Tretmühle des Glücks

Dass wir immer noch einen Großteil der Zeit mit Erwerbsarbeit verbringen, so sagen die Autoren, liegt einerseits daran, dass Reichtum nicht gerecht verteilt ist. Manche haben sehr viel, viele haben wenig und müssen arbeiten, um den Lebensstandard zu halten. Andererseits aber liegt das Immerweitermachen aber auch ganz einfach an unserer Unersättlichkeit.

Die Gier gehört vermutlich zur natürlichen Grundausstattung des Menschen, denn er hat als soziales Wesen die Neigung, sich mit seinem Nachbarn zu vergleichen und mit ihm zu konkurrieren. Daher wollen wir eben immer mehr, auch wenn es uns nicht glücklicher macht. Die Konsumforschung spricht auch von einer „hedonic treadmill“ – einer Tretmühle des Glücksstrebens.

Warum steigen wir nicht aus? Die Skidelskys würden sagen, weil wir den Inhalt – das gute Leben – durch die bloße Form ersetzt haben. Geld oder auch Konsum sind doch eigentlich nur Mittel, um ein gutes Leben zu ermöglichen.

Doch in einer Gesellschaft, die im Wesentlichen nach dem Prinzip des Marktes funktioniert, werden Gier und Gewinn zum reinen Zweck, der leer und süchtig um sich selber kreist. [Die Autoren erläutern das anhand eines Beispiels: Zwei Männer sind auf dem Weg in eine Stadt und verirren sich. Sie gehen aber einfach immer weiter, und weil sie kein anderes Ziel mehr haben, geht es jetzt nur noch darum, schneller zu sein als der andere. „So ungefähr sieht unsere Situation aus. Haben sich alle inhaltlichen Ziele aufgelöst, bleiben nur zwei Möglichkeiten: vorne sein oder hinten liegen.

Der Positionskampf wird zu unserem Los und Schicksal.“] Ich glaube, dass das ein zentraler Punkt ist. Zum guten Leben gehört ein „Wofür“, ein Sinn. „Mehr haben“ allein ist aber kein Ziel, und so sagen es auch die Skidelskys: Endloses Wachstum ist sinnlos.

Die 7 Säulen des Guten

Was brauchen wir also wirklich zum guten Leben? Die Skidelskys stellen diese Frage so wie Kinder, die immer wieder „Warum?“ fragen. Wenn es kein weiteres Warum mehr gibt, sind wir am Ende angelangt, bei einem „Basisgut“. Es ist das, was „an sich“ gut ist, nicht mehr nur „gut für“ etwas anderes (wie etwa Geld). So destillieren die Autoren schließlich sieben Dinge heraus, die sie für universell halten und für unverzichtbar:

    1. Gesundheit
    2. Sicherheit
    3. Respekt
    4. Persönlichkeit
    5. Harmonie mit der Natur
    6. Freundschaft
  1. Muße

Gegen des Strom schwimmen

Ein großer Kämpfer für das Weglassen und die Reduktion ist der deutsche Sozialpsychologe Harald Welzer. Unser exorbitanter materieller Reichtum basiert auf einem wahnsinnigen Raubbau an der Natur, wozu eben nicht nur die Umwelt, sondern auch der Mensch gehört.

Es wird auf Dauer aber nicht möglich sein, diesen Wohlstand zu halten, vor allem nicht, wenn die Schwellenländer, allen voran China, uns imitieren, sagt Welzer. Statt stupide immer weiter auf dasselbe Rezept, lautend auf „mehr Wachstum“, zu setzen, sollten wir uns dringend anderes einfallen lassen. Wir werden unseren derzeitigen Lebensstil radikal verändern müssen. Weil das nicht über Vernunft, sondern nur über Gewohnheit und über Vorbilder geht, hat Harald Welzer den Verein „Futur II“ gegründet, mit dem er Geschichten von Menschen verbreitet, die gegen den Strom schwimmen.

Eine solche Geschichte möchte hier erzählen. Sie handelt von einer Freundin, die in einer kleinen Wohnung in der Nähe von Wien wohnt. Diese Freundin ist die einzige Person in meinem Bekanntenkreis, die keinen Kalender besitzt und auch keine Uhr, denn sie hat ein altes Handy, das zeigt ihr die Zeit an und, wenn sie es braucht, das Datum.

Illustration einsame InselMeisterin des Nichttuns

Diese Freundin ist eine Meisterin darin, Dinge nicht zu tun, denn sie tut nur das, was wichtig ist für ihr Leben. Sie liest, sie schreibt, sie denkt, sie unterrichtet. Sie hat kein Fahrrad, kein Auto. Auf Fahrten mit der Bahn nimmt sie keine Bücher mit, sie schaut aus dem Fenster und macht sich Gedanken.

Sie fotografiert nichts, und sie hört niemals Radio oder CDs im Hintergrund. Wenn sie Musik hört, setzt sie sich eigens dazu hin und hört eben Musik.Diese Freundin besitzt fast nichts, vermutlich könnte sie aus ihrer kleinen Wohnung mit zwei Reisetaschen ausziehen. Sie hat keine Stereoanlage, keine Küchengeräte, nur einen einfachen Computer und ein paar Bücher – das meiste, was sie liest, leiht sie aus der Bibliothek.

Alles Wichtige ist in ihrem Kopf oder sie trägt es am Körper in dieser leichten braunledernen Umhängetasche, die ihr Portemonnaie enthält, ihren Schlüssel, ihren Pass, ihr Handy und einen Lippenstift. Sie hortet keine Vorräte, und Kleidung trägt sie, bis sie wirklich verbraucht ist. Das ist kein Geiz, sondern einfach nur Unlust, einkaufen zu gehen.

Der Wald, in dem sie jeden Tag läuft, ist tausendmal schöner als die Wiener Mariahilfer Straße. Sie kann Alleinsein aushalten und die Stille. Sie braucht nicht viele Dinge und nicht viele Menschen.

Im Jetzt sein

Als ich diese Freundin kennenlernte, war ich erschrocken, ihr Leben erschien mir extrem karg, asketisch. Und gleichzeitig lag darin etwas ungeheuer Anziehendes. Von ihr habe ich gelernt, was man alles nicht braucht, was man lassen kann. Man springt nicht dauernd beim Essen vom Tisch auf, weil noch was fehlt, es fehlt nie etwas. Man bleibt nicht ständig stehen und fotografiert dies und das, weil man gar keine Fotos macht.

Man nimmt nicht 1.000 Dinge mit auf eine Wanderung, sondern nur Brot, Wasser, Käse. Eine Regenjacke vielleicht. Und eine zweite nehme ich für die Freundin mit, denn sie besitzt natürlich keine. Sie plant nicht vor. „Was machen wir heute?“, frage ich immer, und sie sagt: „Ich weiß nicht, ich will einfach mit dir sein.“ Man geht zum Bahnhof, schaut, welcher Zug gerade fährt, und steigt ein.

Ich habe mich nie leichter und nie mehr im zeitlos ewigen Augenblick gefühlt, als wenn ich mit ihr zusammen bin.Natürlich kann diese Freundin kein allgemeines Vorbild sein. Wenn alle so lebten, würde kein Haus mehr gebaut, kein Garten bepflanzt. Familienleben lässt sich so nicht organisieren. Aber eine Scheibe dieser Gelassenheit kann man sich abschneiden von ihr. Auch bei den drei Wünschen im Märchen ist es ja so, dass es meist schiefgeht, wenn man sich einfach nur Gold wünscht.

Hans im Glück ist der, der alles weggibt. Je weniger er hat, desto leichter wird er, desto fröhlicher. Alle Gesellschaften kennen die Spannung zwischen Habenwollen und Loslassenmüssen. Denn wir sind endlich und wollen ins Unendliche. Das gute Leben siedelt dazwischen. Wenn es gelingt, ist es das, was in der Endlichkeit ans Ewige rührt.

Bücher zum Weiterlesen

  • Robert und Edward Skidelsky: Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. Verlag Antje Kunstmann, München 2013
  • Harald Welzer: Selber denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013
  • Geschichten zur Zukunft: www.futurzwei.org
Erschienen in „Welt der Frau“ Ausgabe Juli/August 2014 
  • Teile mit:
  • Veröffentlicht: 19.08.2021
  • Drucken