Aktuelle
Ausgabe:
Nahrung
09/24

Andrea und ihre Schützlinge

Andrea und ihre Schützlinge

Vor vier Jahren nahm Andrea Tews vier unbegleitete Flüchtlinge als Pflegekinder auf. Die Burschen sind ihr ans Herz gewachsen, sie sind in ihren Lehrstellen erfolgreich und gut im Ort integriert. Doch die Angst vor Abschiebung hängt wie eine dunkle Wolke über der Familie.

Vollkornbrot ist noch immer nicht ihr Geschmack. Also gibt es zum Essen immer zwei Sorten Brot: weißes für die jungen ­Afghanen und dunkles für ihre Pflegemutter. „Deckt ihr bitte den Tisch?“, fordert Andrea Tews – blonde Kurzhaarfrisur, Brille, rotes Poloshirt – auf. Geschwind holen ­Mohammad, Yusuf und Maximilian die Teller aus dem Schrank und das Besteck und die Fußballservietten aus der Tischlade. Ramazan rührt unterdessen das Risotto und Ismail wäscht den Salat. „Das ist unser Mittagschaos“, lacht Andrea Tews. Dabei geht es gar nicht chaotisch zu, die groß gewachsene energische 59-Jährige hat alles im Blick. Auffallend ist nur die Lautstärke, wenn gleichzeitig das Geschirr klappert, ein Handy läutet, durcheinandergeredet wird und Hündin Feni unter dem Tisch bellt, weil es gerade an der Tür geklingelt hat – „Nein danke, wir brauchen keine Tiernahrung“. Wie das halt so ist in einer großen Familie.

„Mmh, sehr gut“, lobt Andrea Tews, als sie das Risotto kostet, „ein wenig Salz fehlt noch.“ Die Suppe ist schon fertig. Ruckzuck steht ein großer Topf dampfender ­Karotten-Ingwer-Suppe auf dem Tisch.

Andrea Tews erinnert an eine italienische Mama, wenn sie so dasitzt am großen Esstisch in der Bauernstube, inmitten „ihrer“ fünf Burschen. Maximilian, ihr leiblicher Sohn, ist heute zu Besuch und hat den syrischen Schriftsteller Omar Khir Alanam mitgebracht, der das Buch ­„Danke! Wie Österreich meine Heimat wurde“ ­(Verlag edition a) geschrieben hat. Dann gibt es noch die vier Pflegesöhne Ramazan, ­Mohammad, Ismail und Yusuf. Sie kamen zwischen August und November 2015 auf den Hof der pensionierten Tierärztin und Hundezüchterin. „Ich habe gelesen, dass Pflegeeltern für unbegleitete Flüchtlinge gesucht werden, und habe mich bei der Jugendwohlfahrt in Rohrbach beworben.“ Andrea Tews ist ausgebildete Krisenpflegemutter, und nachdem die Behörde grünes Licht gegeben hatte, kamen im August Mohammad und Ismail aus dem Flüchtlingsquartier Traiskirchen zu ihr, im Oktober folgte Ramazan aus Kärnten und im November Yusuf, der bei einer Tankstelle in Wels aufgegriffen worden war.

TRAUMATISCHE ERLEBNISSE
Drei der vier jungen Männer aus Afghanistan sind im Iran aufgewachsen. Als Angehörige der Hazara, einer ethnischen Minderheit waren ihre Eltern in den Iran emigriert, doch dort wurden sie ebenfalls unterdrückt, diskriminiert und verfolgt. Schulen und Universitäten bleiben der schiitischen Volksgruppe oft verwehrt, ebenso wie die Möglichkeit, einer legalen Arbeit nachzugehen.

Der jüngste der vier jungen Afghanen, Yusuf, flüchtete mit seinen Eltern, nachdem das Haus mehrmals von Taliban geplündert und Todesdrohungen ausgesprochen worden waren. Yusuf hat ein besonders schweres Schicksal: Auf der Flucht wurde er von seinen Eltern und Geschwistern getrennt. Sie gelten seither als vermisst. Eine Suchmeldung über das Rote Kreuz verlief bisher erfolglos.

Aber auch die anderen drei haben Traumatisches erlebt: wochenlang unterwegs zu sein auf einem Weg in die Ungewissheit, zusammengepfercht mit fremden Menschen in Kastenwägen oder auf Schiffen, die ständige Angst als Begleiter und schließlich das Ankommen in einem Land, in dem man sie eigentlich nicht haben will.

FUSSBALL VERBINDET
„Möchte noch jemand Kaffee?“, fragt ­Maximilian in die Runde. Der Pädak-­Student, ein „politisch denkender Mensch“, der sich „verpflichtet sah, etwas zu tun“, wie er sagt, war sofort damit einverstanden, als ihm seine Mutter mitteilte, sie wolle unbegleitete Flüchtlinge bei sich aufnehmen. Neben seinem Lehramts­studium gibt Maximilian (26) geflüchteten Menschen, die die Berufsschule besuchen, Nachhilfe. Am Anfang unterstützte er auch seine vier Wahlgeschwister beim Deutschlernen. Mittlerweile sprechen sie gut bis sehr gut Deutsch: „Wir haben ein super Verhältnis“, sagt Maximilian. Alle fünf teilen eine gemeinsame Leidenschaft: Fußball. Yusuf und Mohammad kicken in derselben Mannschaft, Ramazan und ­Ismail haben früher auch im Verein gespielt, mit den Arbeitszeiten eines Kochs lässt sich der Sport jedoch schwer vereinbaren. „Nun spielen sie Semmel­knödel-Fußball“, scherzt Maximilian, der seine Freunde auch schon zu Länderspielen mitgenommen hat.

Andrea Tews ist überzeugt, dass der Sport neben der Arbeit sehr zum Wohlbefinden und auch zur Integration ihrer vier Burschen beigetragen hat und noch immer beiträgt. Deshalb nimmt sie auch viele Fahrtendienste in Kauf. „Ich bin das reinste Taxiunternehmen. Es gab Zeiten, in denen bin ich 300 Kilometer am Tag gefahren.“ Die Ortschaft Karlsbach in der Gemeinde Pfarrkirchen im Mühlkreis ist zwar sehr idyllisch im Mühlviertel unweit der deutschen Grenze gelegen, inmitten von Wiesen und Wäldern, aber das öffentliche Verkehrsnetz passt mit den Arbeits- und Trainingszeiten der jungen Männer oft nicht zusammen. Und die Krux ist: Einen Führerschein dürfen Mohammad und Ramazan nicht machen, da sie keine anerkannten Flüchtlinge sind.

EINE HUMANITÄRE VERPFLICHTUNG
Nicht nur das Thema „Mobilität“ bringt Andrea Tews oft an ihre Grenzen. Die zähe Bürokratie und die vertrackte Gesetzes­lage lassen sie manchmal fast verzweifeln. Erst nach zwei Jahren in Österreich bekamen Yusuf und Ismail subsidiären Schutz. Ramazan und Mohammads Asylantrag wurde in erster Instanz abgelehnt. Sie haben dagegen Einspruch eingelegt, ­Mohammad wartet auf das zweite ­Interview, Ramazan hatte es bereits und wartet nun auf das Urteil. „Soll man froh sein, dass noch nichts da ist?“, versucht sich ­Andrea Tews zu trösten. „Letztlich ist es eine Demütigung, und es ist total demotivierend.“ Sie bemüht sich, die eigene Verunsicherung nicht zu zeigen: „Man soll ­ihnen ja Halt geben.“ Woher nimmt sie ihre Motivation? „Ich habe die Burschen aus ethischen Gründen aufgenommen, da ich es als humanitäre Verpflichtung sehe.“ Zudem hat sie, ­seitdem sie in der Mittelschule ein Referat über das Land hielt, ein Nahe­verhältnis zu Afghanistan. Vielleicht spielt auch ihre Familiengeschichte eine ­Rolle. Ihr Vater war selbst ein Vertrie­bener, und eine ihrer Schwestern ist schwer­behindert. ­„Daher kommt vielleicht mein ­angebliches ­Helfersyndrom.“

Auf jeden Fall ist Andrea Tews eine Kämpferin, das hat sie schon zu Schul­zeiten bewiesen, als die Legasthenikerin den Prognosen ihrer Volksschullehrerin trotzte – „Du kannst froh sein, wenn du die Hauptschule schaffst“ – und ihr Jahre später das Maturazeugnis unter die Nase hielt.

KAMPF UM LEHRSTELLEN
Wie eine Löwin kämpfte Andrea Tews auch um Lehrstellen für ihre vier Burschen. Eigentlich sollten sie die Polytechnische Schule Neufelden besuchen, alles war geregelt. Doch dann kam wenige Tage vor Schulbeginn der Widerruf durch den Landesschulrat. Nur der Jüngste, Yusuf, durfte die Schule besuchen, weil er noch im schulpflichtigen Alter war. Als Alternative wurde für die anderen ein Sprachkurs in Aussicht gestellt. Tews empfand die 75 Stunden Sprachkurs statt Schule als Hohn. Um den Spracherwerb voranzutreiben, chauffierte sie ihre Jungs zusätzlich ein- bis zweimal in der Woche nach Linz zu einem Deutschkurs.

Nach dem Schuldilemma machte sich Andrea Tews auf die Suche nach Lehrstellen. Sie klapperte etliche Unternehmen ab und fand schließlich für Ismail und Ramazan eine Lehrstelle als Koch. Für Mohammad schuf sie einen Ausbildungsplatz als Tierpfleger auf ihrem Hof. Damit dies möglich wurde, schaffte sie zusätzlich zu den Hunden auch noch andere Tiere wie Enten, Gänse und Truthähne an und absolvierte einen Kurs zur Lehrlingsausbildnerin.

DEN ABSCHLUSS AUFSCHIEBEN
Mohammad, Ramazan und Ismail stehen kurz vor ihrem Lehrabschluss. Gute Nachrichten, möchte man meinen. Ihre Dienstgeber loben sie in höchsten Tönen. Ismail hätte vom Gasthaus Gierlinger eine Jobzusage, Mohammad vom Tierpark Schönbrunn und Ramazan wäre als künftiger Küchenchef im Gasthof Wundsam vorgesehen. Das Problem: Da Mohammad und Ramazan keinen positiven Asylbescheid haben, dürfen sie nach Abschluss der Lehre nicht mehr arbeiten. Auch Gastwirt Christian Wundsam kann darüber nur den Kopf schütteln: „Viele Gastronomen suchen händeringend Köche bzw. Kellner. Wir hätten jetzt mit Ramazan eine Top-Fachkraft mit lauter Einsern im Zeugnis, und dann wird er womöglich abgeschoben.“ – „Wir versuchen nun, die Lehrabschlussprüfung hinauszuzögern“, skizziert Andrea Tews den weiteren Weg.

WIE LANGE GEHT DAS WARTEN NOCH
Das Warten zermürbt. „Ich kann nicht mehr schlafen“, sagt Ramazan. Er trägt Kapuzenpulli, Jeans und Turnschuhe, so wie viele junge Menschen. Hier in Österreich hat er seine Freunde und seine Freundin, seinen Job, mittlerweile seine Wohnung – deren Miete zum Teil die Familie Wundsam finanziert –, sein Leben. Österreich ist für ihn zur Heimat geworden.

„Heimat ist dort, wo man seine Beziehungen hat“, so definiert es Omar Khir Alanam. Der Wehrdienstverweigerer flüchtete aus Syrien und lebt heute als Poetry-Slammer und Schriftsteller in Graz. Die Angst der Einheimischen versteht er: „Bei Fluchtbewegungen hat es immer Angst gegeben.“ Angst ist für ihn ein Zeichen von Unsicherheit und Unwissen. Bei seinen Lesungen erlebt er immer wieder, dass durch das Gespräch Ängste abgebaut werden, Menschen auf ihn zukommen und sich bei ihm entschuldigen für die Vorurteile, die sie anfangs hatten. Für den Syrer ist Integration eine „Möglichkeit, die man erhält“. Die Basis sei ein Zuhause, eine Arbeit und die Sprache. Auch ein wenig Humor könne nicht schaden. Einmal habe ein Mann zu ihm gesagt: „Du bist doch Muslim, einer der 70 Frauen hat!“ Und Alanam dachte: „Boah, da muss ich noch nach 69 anderen suchen.“

Auch bei Andrea Tews wird viel gelacht. Ismail und Ramazan sind bereits ausgezogen, Mohammad und Yusuf leben noch am Hof. Auch wenn die Burschen langsam flügge werden, kommen noch immer alle gern zusammen. „Rechtlich bin ich nicht mehr die Pflegemutter von Ramazan und Ismail“, erklärt Tews. „Aber sicher“, ruft Ramazan aus der Küche dazwischen, wo er gerade den Spargel schält. „Das freut mich aber“, lächelt sie.

ICH BIN EINFACH DIE ANDREA
Manchmal vergeht ihr aber auch das ­Lachen. Die Angst vor der Abschiebung hängt wie eine dunkle Wolke über der Familie. Die Mühlviertlerin hofft, dass ­Ramazans und Mohammads Verfahren in zweiter Instanz positiv ausgehen. Im Fall eines negativen Bescheids würde sie Einspruch erheben und argumentieren, „dass eine gewachsene Familie auseinander­gerissen wird“.

Andrea Tews ist wie eine Mutter für die vier, ohne jedoch einen Anspruch darauf zu erheben. „Ich bin einfach die Andrea.“ Als Pflegemutter bekommt sie für die beiden Burschen, die noch bei ihr wohnen, eine Aufwandsentschädigung von je 560 Euro. „Reich wird man nicht davon. Wenn das jemand glaubt, soll er es einfach selbst machen.“ Das Geld fließt zum Großteil in die Lehrlingsentschädigung für ­Mohammad. Finanziell habe sie sich mit der Lehrstelle weit aus dem Fenster gelehnt, sagt Tews.

NERVENPROBE PUBERTÄT
„Warum nimmst du vier Burschen in dem Alter?“, wird sie öfter von den Leuten gefragt. „Ich habe es ausgeblendet, dass sie auch in die Pubertät kommen. Ich dachte immer, Flüchtlingskinder hätten keine Pubertät. Die seien angepasst, lieb, brav, würden alles, was ich sage, tun und meine Ansichten nie infrage stellen“, meint ­Andrea Tews und schmunzelt. Heute weiß sie, dass dem nicht so ist und dass die kulturellen Unterschiede die Selbstfindung noch einmal schwieriger machen können. „Mama, ich war doch auch so“, beruhigte Sohn Maximilian sie des Öfteren.

Ein besonders harter Brocken war für die Pflegemutter, als ihr Yusuf eines Tages eröffnete, er wolle weg, in einer Stadt leben. Für ein halbes Jahr übersiedelte er in eine Flüchtlingsunterkunft. Körperlich und psychisch ging es ihm in dieser Zeit nicht gut. Nach einem halben Jahr kam er wieder zurück. Wichtig war ihr, dass er den ersten Schritt machte: „Ich will wiederkommen.“

Andrea Tews schaut Yusuf an, der gerade mit seinem Handy beschäftigt ist: „Legst du bitte das Handy weg? Wir essen gleich.“

Andrea Tews hatte sich immer viele Kinder gewünscht. Maximilian brachte sie mit in die Ehe. Mit weiteren Kindern wollte es allerdings nicht klappen. Also ließ sich Andrea Tews – von ihrem Mann lebt sie inzwischen getrennt – zur Krisenpflegemutter ausbilden und betreute für einen gewissen Zeitraum Kinder in schwierigen Verhältnissen, die nicht bei ihren Eltern bleiben konnten, darunter österreichische, türkische und serbokroatische Kinder. Ihre vier Burschen im Asylverfahren stellen sie jedoch vor ganz neue Herausforderungen.

EINE FRAGE DER ENERGIE
Sechs Kinder wollte Andrea Tews immer, fünf hat sie nun. Doch sie weiß nicht, wie es weitergeht. „An manchen Tagen fehlt mir die Kraft. Aber wenn ich etwas angefangen habe, mache ich es fertig. Und Tage wie heute, an denen wir alle zusammen sind und gemeinsam essen, geben Kraft zurück.“ Und dann ruft sie: „Möchte noch jemand Risotto?“

Ismail

Herkunft: Afghane, seine Familie emigrierte in den Iran
Familie: Die Mutter und seine fünf Geschwister leben im Iran, der Vater ist verschollen
Ausbildung: Kochlehrling, 3. Lehrjahr
Hobby: Basketball
Asylstatus: seit zwei Jahren subsidiärer Schutz, noch bis 2021
Wunsch: „In Österreich leben und eine gute Arbeit finden“

Ramazan

Herkunft: Afghane, seine Familie emigrierte in den Iran
Familie: Mutter und Schwester leben im Iran, der Bruder ist verschollen, der Vater verstorben
Ausbildung: Kochlehrling, 3. Lehrjahr
Hobby: Fußball
Asylstatus: negativer Bescheid in erster Instanz, das zweite Interview fand im Februar statt, ein Urteil ist noch ausständig
Wunsch: „Meine Freundin ist hier. Meine Heimat ist hier in Österreich. Es ist alles so unsicher, ich tu mir schwer, Pläne zu machen.“

Mohammad

Herkunft: Afghane, aufgewachsen im Iran
Familie: Die Eltern und sechs Geschwister leben im Iran – über WhatsApp gibt es regelmäßigen Kontakt
Ausbildung: Tierpfleger-lehrling, 3. Lehrjahr
Hobbys: Fußball, Laufen, Schwimmen – „Ich mache jeden Tag Sport.“
Asylstatus: negativer Bescheid in erster Instanz, Warten auf das zweite Interview
Wunsch: „Ich will in Österreich leben – in einem Land leben, in dem ich keine Angst haben muss.“

Yusuf

Herkunft: Afghane
Familie: Auf der Flucht wurde er von seinen Eltern und vier Geschwistern getrennt, seither fehlt jede Spur von ihnen
Beruf: Maurerlehrling, 1. Lehrjahr
Hobbys: Fußball, Schwimmen, Handy
Asylstatus: subsidiärer Schutz bis 2021
Wunsch: „Meine Familie zu finden und dort zu leben, wo ich sicher bin“

Titelbild: Mittagstisch bei Andrea Tews im Mühlviertel: neben ihrem Sohn Maximilian (2. von rechts) gehören auch ihre Pflegesöhne Mohammad, Ramazan, Ismail und Yusuf (von links) zur Familie.

Erschienen in „Welt der Frauen“ 07-08/2019

  • Teile mit:
  • Veröffentlicht: 12.07.2019
  • Drucken