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09/24

Ode an die Sehnsucht

Ode an die Sehnsucht

Wir haben unsere Leserinnen eingeladen, ihre Erfahrungen, Erlebnisse oder Bilder unter dem Motto „Was ich gerade jetzt schätze“ mit uns zu teilen.

In den Wochen zu Hause, ohne große Aufträge, außer gut für mich und meine Familie zu sorgen, hab‘ ich mir vorgenommen, wieder Dinge zu tun, die mir früher sehr wichtig waren und mir ganz viel Gutes geschenkt haben.

Dinge zu tun, die keinen unmittelbaren Zweck erfüllten, die fürs Erste keinen Sinn machten. Dinge, die ich tat wegen des Tuns Willen. Was für ein wunderbares Gefühl war das früher, erinnere ich mich.

Und dazu gehörte auch Rilke zu lesen, ihn zu verstehen, und das Wort verinnerlicht zu besitzen.

So beschließe ich heute, nicht „ganz zufällig“, sondern sehr absichtlich, über ein Gedicht zu stolpern. Einfach weil ich der Überzeugung bin, dass mir Rilke in seinem Sammelband bestimmt mehr zu sagen hat, als die aktuelle Tageszeitung.

Und als ich auf meiner Gartenliege mein Gesicht den ersten warmen Sonnenstrahlen entgegenrichte mit dem hellblauen Sammelband an Rilke-Gedichten im Schoß, erinnere ich mich an ein Gespräch mit einem Lehrer in meiner Gymnasialzeit, der mir zwischen Tür und Angel des Konferenzzimmers die Empfehlung mitgab, „dass jeder mindestens ein Gedicht auswendig können sollte, einfach so“.

Da erwacht meine Sehnsucht wieder, ein Gedicht zu lernen.

Einfach so, weil es schön ist, tiefe Worte in sich zu haben.

Und welches würde sich da wohl besser eignen als das von Paul Michael Zulehner in einer ORF-Sendung zitierte Gedicht von Rainer Maria Rilke.

Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge
und keine Heimat haben in der Zeit.
Und das sind Wünsche: leise Dialoge
täglicher Stunden mit der Ewigkeit.

Und das ist Leben: Wenn aus einem Gestern
die einsamste von allen Stunden steigt,
die, anders lächelt, als die andern Schwestern,
dem Ewigen entgegenschweigt.

Über Ihre Empfehlung würden wir uns
in diesen herausfordernden Zeiten besonders freuen.

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  • Veröffentlicht: 02.05.2020
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