Karla Klimentová gilt als schräg, verrückt im Kopf und widerständig. Ihre Mutter treibt sie damit in den Wahnsinn, aber das geht doch auch schnell bei einer Person, die außer Garten- und Einrichtungszeitschriften nichts liest. Der Vater kümmert sich ums Geschäft, darin ist er gut, reich werden seine Begabung. Erst als der Dauerstreit zwischen Tochter und Mutter die gemeinsame Reise zu Weihnachten im Jahr 2004 beherrscht, hebt er kurz den Kopf: Sei dankbar, wir fahren mit dir nach Thailand, bezahlen deine Musik, deine Mutter achtet auf dich, zieh dir was Richtiges an.
Fast wäre man versucht, einen Coming of Age-Roman zu erwarten, kämen da die Wellen und mit ihnen die Erinnerungen der LeserInnen an den Tsunami auf einen zu: Karla überlebt und sucht verzweifelt nach ihren Eltern. Überall liegen in schwarzen Säcken Menschen, manche Einheimische betreiben regen Handel mit Leichenteilen: gestohlen aus dem Leichenschauhaus, geben sie hier am Strand den Suchenden Gewissheit, dass die geliebten Menschen tot sind. Da kommt ein Fotograf, auch er macht ein Geschäft mit dem Tod. Karla hat beim kubanischen Jazzmusiker Lázaro Milo nicht nur den Blues, sondern auch die Muttersprache ihres Lehrers – kubanisches Spanisch – gelernt. Karlas Oma, die Apothekerin, ist immer für sie da, sie liebt sie mehr als ihre Elten, ja, auch jetzt nach dem Tsunami.
Karla setzt sich mit dem Vorwurf ihrer Mutter, sie sei grausam, auseinander. Bin ich grausam? Sucht eine grausame Tochter wirklich tagelang den Strand nach ihren vermutlich toten Eltern ab? Wer bestimmt, wer sie ist oder sein könnte?
„Jetzt allerdings suche ich sie und gebe mir Mühe, sie aus der Schattenwelt zurückzulocken, aus ihrer Lügenwelt, mit der Selbstverständlichkeit eines Kleinkinds, aus der Selbstverständlichkeit meines unlogischen Hirns, das letzten Endes immer das macht, was es will. Mit dem natürlichen Instinkt eines Haustiers, das sich draußen verlaufen hat und verzweifelt den Weg zurück sucht. (S. 42)“
Einsamkeit in allen Schattierungen, Hoffnung in allen Tönen, Ausbrechen auf vielen Stationen: Karla verändert sich, hat lange nicht Trompete gespielt oder komponiert. Ihr Lehrer erzählt von seinen politischen Aktivitäten, die junge Frau gerät zwischen die Welten der Selbstfindung und Politik, landet in Havanna und beginnt zu verstehen, zu spielen, wieder ganz in der Musik zu sein. Trotzig hingeworfene Szenen stehen hier neben inneren Monologen, Geheimnisse knistern zwischen den wenigen Menschen, die die Protagonisten dieses Romans sind.
Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Musik, Musik, Trotz einer Jugendlichen, Empathie, Begeisterung eines Lehrers, Tod, Verzweiflung, Reisen, Aufbrechen, Geheimnis und den Wunsch, sofort Trompete zu spielen.
Die Autorin, 1973 in Kromeriz geboren, hat Romanistik und Geschichte studiert, schreit Romane und Kinderbücher, ist auch als Übersetzerin tätig. Derzeit lebt sie in Lateinamerika – Brasilien, Argentinien -, wo sie Tschech unterrichtet. Man möchte dabei sein!
Markéta Pilátová:
Tsunami Blues.
Roman.
Aus dem Tschechischen von Mirko Kraetsch.
Wien: Braumüller 2016.
378 Seiten