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10/24

„Man darf mit jedem Körper eine Meerjungfrau sein“

„Man darf mit jedem Körper eine Meerjungfrau sein“
Foto: Prismafilm

Am 28. Juni feiert das Langspielfilmdebüt „Mermaids Don’t Cry“ der Wiener Regisseurin Franziska Pflaum im Gartenbaukino Premiere. Im Zentrum steht Supermarktverkäuferin Annika, deren Leben alles andere als perfekt verläuft. Trotz aller Widrigkeiten träumt sie jedoch nur von einem: der Freiheit als Meerjungfrau samt perfekter Glitzerflosse.

Frau Pflaum, woher kam die Inspiration zu „Mermaids Don´t Cry“? 

Der Anstoß war ein Meerjungfrauentraining, das ich 2015 in einem Berliner Schwimmbad gesehen habe. Ich kannte „Mermaiding“ – das Schwimmen wie eine Meerjungfrau – davor nicht, war aber fasziniert und begann zu recherchieren. Ich erfuhr, dass es sich um einen kommenden Trend handelt, bei dem Frauen sehr viel Wert auf Kostümierung legen. Gleichzeitig geht es um das Gefühl, sich unter Wasser frei zu fühlen, eine Fantasiewelt lebendig werden zu lassen und selbst das Fabelwesen zu werden. Einerseits fand ich das total schön und wollte es selbst gleich ausprobieren. Andererseits hatte es aber auch etwas Banales, sich in so eine Flosse zu quetschen, sich zu schminken und dann so zu tun, als wäre man eine Meerjungfrau. Für mich waren das zwei Pole, die eine Frage aufwarfen: Was steht dazwischen? Genau damit haben wir dann begonnen, unsere Geschichte zu erzählen. Im Film geht es darum, dass die Meerjungfrau, die wir zeigen, keine ist, sondern eine Supermarktverkäuferin, die gern eine wäre. Sie stellt sich das aber nicht nur vor, sie will ein Konsumgut kaufen, damit sie das erreicht. Einerseits ist es eine Sehnsucht, andererseits ein Konsumverhalten, das wir alle kennen. Das eine Stück, das man haben will, und dann wird alles besser. Und dazwischen spielt die Geschichte.

Während die Meerjungfrau an sich ein sehr mysteriöses Fabelwesen darstellt, geht es beim „Mermaiding“ viel um Selbstinszenierung. Spielt dieses „Sich-selbst-darstellen-Müssen“ auch im Film eine Rolle?

Es spielt eine große Rolle. In gängigen Darstellungen von Meerjungfrauen ist der Aspekt zentral, dass die Meerjungfrau sexy und idealisiert dargestellt wird. Es ist immer ein perfekter Frauenkörper und es geht sehr oft darum – auch in den Geschichten, mit denen wir aufgewachsen sind –, dass sie ein Opfer auf sich nehmen muss, um dann von einem Mann geliebt zu werden. Mir ging es darum, eine Geschichte von Selbstermächtigung zu erzählen. Unsere Meerjungfrau ist wunderschön, aber sie entspricht einfach nicht dieser Schablone, die wir aus „Arielle“ oder sonstigen Filmen kennen. Sie hat ihren eigenen Körper, der toll ist und im Film gefeiert wird. So eine Meerjungfrau habe ich noch nie gesehen. Ich finde es wichtig, dass in dieser medialen Darstellung gezeigt wird: Man darf mit jedem Körper eine Meerjungfrau sein. Man muss diesem strengen Korsett nicht entsprechen, um abzutauchen und sich frei zu fühlen. In der Geschichte selbst geht es am Ende nicht darum, dass sie von einem Mann befreit wird, sondern, dass sie erkennt, dass dieses Abtauchen und diese Fantasiewelt letztlich nicht für eine Verwandlung ausreichen. Diese muss bei ihr stattfinden.

„Ich finde, es gibt so viele schöne Körper auf dieser Welt und wir zeigen immer die gleichen. Das ist einfach fad.“

Also war es bewusst Ihr Anspruch, mit der klassischen Meerjungfrau, ihrer Erlösungsbedürftigkeit aufzuräumen und eine Frau zu wählen, die nicht dem Erscheinungsbild entspricht?

Ja. Mich hätte eine, nennen wir es einfach einmal, „0815-Meerjungfrau“ sehr gelangweilt. Ich finde, es gibt so viele schöne Körper auf dieser Welt und wir zeigen immer die gleichen. Das ist einfach fad. Unsere Geschichte ist eine Umkehrung davon. Es war von Anfang an klar: Wenn ich schon eine Meerjungfrauengeschichte erzähle, dann muss sie mit allem brechen, was vorher da gewesen ist. 

Galt Stefanie Reinsperger von Beginn an als Wunschkandidatin für die Rolle der Annika? 

Ich kannte Stefanie vor allem von der Bühne und fand sie großartig. Es war ein heimlicher Wunsch, darum haben wir sie angefragt. Sie hat zugesagt, mir aber später verraten, dass sie am Anfang etwas skeptisch war, ob sie eine Meerjungfrau sein will. Ich glaube, dass diese Aspekte, die ich zuvor genannt habe, für sie ansprechend und ausschlaggebend waren, mitzumachen. Gerade als Buhlschaft wurde sie ja regelrecht dafür beschimpft, sich auf die Bühne zu stellen. Ihr wurde gesagt, dass sie keine Buhlschaft sei. Was totaler Quatsch ist. Aber sie stellt sich damit natürlich ins mediale Scheinwerferlicht, wo sie angreifbar ist. Als Meerjungfrau macht sie das einmal mehr. Ich glaube, dass es sie schon Überwindung gekostet hat. Gleichzeitig sagte sie, dass es ihr als junge Frau sehr geholfen hätte, einmal eine Meerjungfrau zu sehen, die anders und trotzdem schön ist.

Foto: stefanjoham.com
„Mir war es wichtig, dass man am Ende nicht über diese Figuren urteilen kann, sondern dass sie trotz allem Heldinnen des Alltags bleiben.“

Gerade Filme und Serien prägen diese perfekten Rollenbilder seit jeher. War es wichtig für Sie, dem ausgerechnet mit einem Film gegenzusteuern? 

Ja, auf jeden Fall. Es sind sehr viele verschiedene Frauenfiguren, die gezeigt werden. Sie alle sind nicht perfekt. Sie erfüllen vielleicht nicht das Mutterbild oder auch nicht jenes einer guten Chefin. Trotzdem sind sie in meinen Augen am Ende des Tages sehr liebenswerte Personen. Ich mag sie trotz ihrer Fehler. Durch ihre Biografie und die Situation, in der sie sich befinden, ist ihr Handeln auch ein Stück weit nachvollziehbar. Mir war es wichtig, dass man am Ende nicht über diese Figuren urteilen kann, sondern dass sie trotz allem Heldinnen des Alltags bleiben.

Der Protagonistin Annika fällt es schwer, sich von FreundInnen und Familienmitgliedern abzugrenzen. Ähnlich wie bei ihr wirkt es häufig so, als hätten Frauen Schwierigkeiten damit, Nein zu sagen. Sie geben alles, bis der große Knall kommt und sie gezwungen sind, etwas zu ändern. 

Dieses Abgrenzungsproblem, sich für alles verantwortlich zu fühlen, ist ein Frauenthema. Sie sind oft die, die – obwohl sie berufstätig sind – Familien zusammenhalten. Es ist sicher eine Zuschreibung, eine Rolle, in die man als Frau hineinversetzt wird – auch wenn es Männer gibt, die dieses Problem haben. Das geht so lange, bis sie unter dem Druck zusammenbrechen und nicht mehr können. Dabei ist es wichtig, auf sich zu achten. Man kann nur für andere da sein, solange man selbst stabil ist.

„Es ist gut, in seinem Leben einen Ort zu haben, wo man nicht funktionieren und sich nicht ständig beobachten oder hinterfragen muss. “
Filmplakat Mermaids Don't Cry

All diese Herausforderungen, denen Annika dadurch begegnet, sind vergessen, wenn sie im Schwimmbecken verkleidet in ihre Traumwelt eintaucht. Flüchtet sie vor der Realität?

Ich denke schon. Die Welt, in der sie eben nicht Nein sagen kann, wo sie sich ihren eigenen Raum nicht abstecken kann, wird immer enger. Und zwar tatsächlich, indem alle in ihrer Wohnung einziehen und sie fast keine Luft mehr zum Atmen hat. In ihrer Traumwelt hat sie Platz. Dort kann sie – am Anfang – bestimmen. Dort macht sie die Regeln. Doch dann droht das ganze Konstrukt zu kippen, plötzlich tauchen all diese Figuren, die ihr das Leben schwer machen, auch dort auf und versuchen, ihre Wünsche und Träume zu boykottieren. Es ist eine Flucht und ein Traum, der gleichzeitig von der Realität eingeholt wird. Als sie am Ende selbst dort keinen Platz mehr hat, ist das der Punkt, an dem sie erkennt: Jetzt muss ich real etwas verändern.

Bis zu welchem Grad hilft es, sich aus der Realität wegzuträumen? Wann überschreitet man Ihrer Meinung nach eine Grenze? 

Es geht sehr viel um Selbstverantwortung und letztlich darum, zu schauen, was mir guttut. Bei mir ist es zum Beispiel Sport. Bei jemand anderem ist es vielleicht auch „Mermaiding“. Es ist gut, in seinem Leben einen Ort zu haben, etwa ein Hobby, wo man nicht funktionieren und sich nicht ständig beobachten oder hinterfragen muss. Wenn das aber nur noch eine Flucht darstellt und ich vor meinen eigenen Problemen davonrenne, dann sollte man etwas ändern. 

„Dieser einfache Satz „Lebe im Jetzt“ enthält eine große Wahrheit, die gar nicht so einfach zu erreichen ist, weil man immer etwas an sich kritisiert.“

Ohne zu viel zu verraten, schafft es Annika am Ende, sich zu befreien. Wie kommt es zu diesem Wandel?

Sie erkennt, dass sie sich selbst genug ist. Sie braucht diese Idee der Selbstoptimierung, der wir alle nachjagen, nicht mehr – dieses „Wenn ich das und das kaufe, wenn ich das kann, wenn ich so viel abgenommen habe oder diesen Job bekommen habe, dann bin ich komplett“. Letztlich wissen wir doch alle, dass es in Wirklichkeit keinen Sinn macht, in der Zukunft zu leben. Dieser einfache Satz „Lebe im Jetzt“ enthält eine große Wahrheit, die gar nicht so einfach zu erreichen ist, weil man immer etwas an sich kritisiert. Wenn man sich später zurückerinnert, denkt man sich oft: Warum war ich damals so unzufrieden? Es war doch alles okay, warum habe ich mein Potenzial nicht tatsächlich gelebt, sondern immer darauf gewartet, dass etwas anders wird? Insofern geht es um einen Freiheitsschlag: Ich genüge. 

So wie sich Annika in ihrem Leben durchsetzen muss, treffen viele Frauen auch in Ihrer Branche, der Filmszene, häufig auf Widerstände. Wie haben Sie das wahrgenommen?

Aus meiner eigenen Biografie heraus habe ich eigentlich ziemlich viele Vorteile als Frau. Das begann an der Kunsthochschule in Wien, wo ich eine Dozentin hatte, die neugierig auf die Arbeit einer jungen 19-Jährigen war, deren Arbeit meiner Meinung nach damals noch nicht so toll war. Aber sie mochte mich – jung, ein bisschen aufmüpfig – und nahm mich auf. Dann an der Filmschule, glaube ich, hatte ich es als Frau leichter, aufgenommen zu werden. In der Arbeitswelt bin ich zu einem Zeitpunkt angekommen, an dem nach jungen Frauen, die Filme produzieren, gesucht wird. Insofern hatte ich sehr wenig negative Erfahrungen. Was nicht bedeutet, dass ich irgendjemandem abspreche, diese gemacht zu haben. Und ich kenne es auch von meiner Schwester, die Kostümbildnerin ist. Sie erzählt, dass sie als Frau sehr wohl teilweise Probleme hat oder mit schwierigen Situationen konfrontiert ist, die wahrscheinlich nicht bestünden, wenn sie keine wäre. 

„Ich denke, dass eine gute Filmemacherin das Interesse am anderen ausmacht.“

Es wird also nach weiblichem Nachwuchs für die Filmbranche gesucht. Welchen Rat würden Sie den Interessentinnen mitgeben? 

Ich denke, dass eine gute Filmemacherin das Interesse am anderen ausmacht. Das heißt, wirklich genau hinzuschauen, zu beobachten und den Menschen, die man abbildet, Raum zu geben. Es geht nicht um einen selbst, wenn man hinter der Kamera arbeitet. Wer dieses Interesse hat, kann sich ausprobieren. Wer noch in der Schule ist oder noch nicht studieren kann, hat die Möglichkeit, kleine Filme zu drehen. Was ich als sehr wichtig für junge FilmemacherInnen halte, ist, nicht zu früh zu versuchen, Erfolg zu haben. Die Zeit des Studiums, wenn man an einer Film- und Kunsthochschule aufgenommen wurde, ist jene, in der man seine eigene Sprache finden kann. 

Wie sollen die ZuseherInnen am Ende Ihres Langspielfilmdebüts den Kinosaal verlassen? 

Ich würde mir wünschen, dass die Leute hinausgehen und Lust aufs Leben haben. Es ist ein guter Start, um einen schönen Abend mit Freunden zu haben oder mit der Familie zu lachen. Der Film nimmt sich selbst nicht so ernst und ist trotzdem nicht platt. „Mermaid´s Don´t Cry“ – das gilt für alle Figuren und so auch für das Publikum: sich nicht immer gleich runterzumachen, nicht zu weinen, sondern sich hinzustellen und „Ich schaffe das“ zu sagen. Irgendwie findet man immer einen Weg.

Zur Person

Franziska Pflaum ist eine österreichische Regisseurin und Autorin, die 1987 in Wien geboren ist. In der Bundeshauptstadt studierte sie Bildende Kunst an der Akademie der bildenden Künste, hinzu kam ein Studium der Regie an der deutschen Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf. „Mermaids Don´t Cry“, ab 7. Juli regulär in allen heimischen Kinos zu sehen, ist ihr erster Langspielfilm. Im März wurde dieser bereits bei der Diagonale, dem Festival des österreichischen Films, in Graz gezeigt.

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  • Veröffentlicht: 19.06.2023
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