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04-05/24

Menschen, die Brücken bauen

Menschen, die Brücken bauen

Acht Porträts, kurz und prägnant formuliert, zeigen mir als Leserin, wie Mut gelebt werden könnte. Da packt die Schauspielerin Dorothea Neff das Allernötigste zusammen, das Lilli Wolff im Lager brauchen würde. Wolff ist Jüdin, man weiß schon, wozu die nationalsozialistischen Schergen fähig sind, man hat auch gesehen, wie Juden mit Zahnbürsten Gehsteige säubern mussten. Es ist eine Küchenwaage, die die zwei Frauen beim Packen befragen, dieser Szene verdankt das Buch seinen Titel. Doch Halt, es geht in allen Geschichten ums Abwägen: In einer Waagschale die eigene Sicherheit, in der anderen die Sicherheit eines/einer anderen. Dorothea Neff räumt all die Sachen, die Lilli Wolff das Leben im Konzentrationslager erträglich machen könnten, energisch weg: Lilli bleibt fortan bei ihr.

„Niederlegen, befahl sie sich. Ausstrecken. Entspannen. Nerven sind von jetzt an verboten. Ruhig. Ganz ruhig. Sie war sich klar darüber, dass sie etwas für sie sehr Kostbares aufgegeben hatte: ihre Unabhängigkeit, die Möglichkeit, sich völlig zurückzuziehen, allein zu sein. Sie ahnte, dass es schwer sein würde, nach einem anstrengenden Tag am Theater nach Hause zu kommen, nur noch abschalten zu wollen, und der Gier eines Menschen nach draußen, nach Welt, ausgeliefert zu sein. (S. 17)“

Sie versteckt sie bis 1945 bei sich, teilt die Lebensmittelration mit ihr und findet Verbündete. Wolff erhält 1980 die Ehrenurkunde und Medaille von Yad-Waschem. In ihrer Dankesrede sagt sie:

„Das Weiterreichen von Hilfe wäre eine tröstliche Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. (S. 23)“

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: ein Plädoyer für ein gerechtes Leben, Antworten auf Fragen der Zivilcourage, Sensibilisierung für Hetze und Propaganda, politische Bildung, grandiose Kurzporträts, kleine Geschichte über große Charaktere

Die Autorin: 1937 in Wien geboren, dort und in Aussee aufgewachsen; arbeitete als Übersetzerin, begann Kinder- und Jugendbücher zu schreiben, „Das Vamperl“ und „Johanna“ zählen zu jenen Büchern, die bereits jetzt Klassiker sind. Preise erhält die engagierte Autorin regelmäßig, so 2017 den Theodor-Kramer-Preis, ein Auszug aus der Laudatio: „Renate Welshs Texte sind ein seit Jahrzehnten unablässig formuliertes Plädoyer für Achtung, Respekt, Gerechtigkeit, für ein besseres Leben.“ (zit. vom Klappentext des hier vorgestellten Buchs)

Renate Welsh:
In die Waagschale geworfen.
Geschichten über den Widerstand gegen Hitler.
Mit einem Vorwort von Heinz Fischer.
Wien: Czernin Verlag 2019.
104 Seiten.

Christina Repolust

wurde 1958 in Lienz/Osttirol geboren. Sie schloss das Studium der Germanistik und Publizistik in Salzburg ab. Seit 1992 ist sie Leiterin des Referats für Bibliotheken und Leseförderung der Erzdiözese Salzburg und unterrichtet nebenbei Deutsch als Fremdsprache. Zudem leitet sie Literaturkreise und Schreibwerkstätten für Groß und Klein. Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.“

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  • Veröffentlicht: 05.06.2019
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