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04-05/24

Mary Anning: Entdeckerin der Urgeschichte

Mary Anning: Entdeckerin der Urgeschichte

Im frühen 19. Jahrhundert beginnt ein Mädchen an der Südküste Englands, Muscheln und Fossilien zu sammeln. Doch was sie findet, sind die Skelette mächtiger Saurier. Mary Annings Funde machen sie zu einer der ersten Paläontologinnen – und liefern wichtige Erkenntnisse über die Evolution

Mary rafft ihre Röcke und klettert den kleinen Felsvorsprung hoch. Hier, an den Klippen, wo ihr der Seewind ins Gesicht weht und im Sand Schätze schlummern, kennt sie sich aus. Bisher hat sie eine Handvoll besonders schöner Muscheln und einen Ammonit gefunden. Das Geld, das sie dafür bekommt, wird sie wie immer ihrer Mutter bringen. Ihre Familie kann jeden Penny brauchen. „Mary!“, hört sie ihren Bruder rufen. Er kauert einige Meter entfernt am Boden und deutet auf einen zerbrochenen Felsbrocken. „Schau dir das an!“ Im Stein erkennt Mary die Konturen eines Schädels. Große, leere Augenhöhlen, eine lange, flache Schnauze und unfassbar viele, spitze Zähne. Die Geschwister sehen sich an. „Mary“, flüstert Joseph, „was ist das?“

Das Glückskind des Ortes

Im Frühjahr 1799 wird in der südenglischen Grafschaft Dorset ein Mädchen geboren. Die Eltern nennen die Kleine Mary, nach ihrer ersten Tochter, die früh starb. Die Familie ist bitterarm. Marys Vater Richard ist Tischler und sammelt nebenher an der Küste Fossilien und Muscheln, die er an Reisende verkauft. Ihre Mutter Molly kümmert sich um die zehn Kinder, von denen nur Mary und ihr kleiner Bruder Joseph das Erwachsenenalter erreichen.

Und beinahe hätten sie auch Mary verloren: Eine Nachbarin hält das Baby auf dem Arm, als im Jahr 1800 ein Blitz in den Baum einschlägt, unter dem sie steht. Alle Umstehenden sterben, nur die kleine Mary kann zurückgeholt werden. Von da an gilt sie in ihrem Heimatort als Glückskind, als etwas Besonderes. Zuvor sei sie ein krankes, schwächliches Baby gewesen, raunt man sich zu. Der Blitzschlag habe sie in das kräftige, neugierige und kluge Mädchen verwandelt, zu dem sie später wurde.

Doch von diesem Glück ist in Marys Kindheit zunächst wenig zu merken. Sie kann die Schule nur spärlich besuchen. Ihr Vater stirbt an Tuberkulose, als sie elf Jahre alt ist, und von da an müssen die Kinder an der Küste Fossilien sammeln. Die sind in den hellen Felsen und Klippen ihrer Heimat im Übermaß zu finden. Wohlhabende Touristen kaufen die Fossilien für ihre Kuriositätenkabinette. Die wenigsten von ihnen wissen tatsächlich etwas mit den versteinerten Überresten anzufangen, die zu keinen bekannten Tieren zu passen scheinen. Die Idee, dass Lebewesen aussterben können, ist damals nicht mehr als eine umstrittene Theorie unter Wissenschaftern. Als Joseph und Mary den versteinerten Schädel finden, denkt man zuerst an ein Krokodil.

Ein Fund verblüfft die Wissenschaft

Das ändert sich, als Mary ein Jahr später einen spektakulären Fund macht. Ein Felsbrocken gibt die versteinerten Knochen frei, die zu dem Schädel gehören. Es ist das erste vollständige Skelett eines Ichthyosaurus, eines Fischsauriers, das jemals gefunden wurde. Das Glück hat seinen Weg zurück zu Mary gefunden, die damals erst zwölf Jahre alt ist. Sie erhält 23 Pfund für ihren Fund, der später an ein Museum versteigert wird. Das Saurierskelett stellt auf den Kopf, was man damals über die Urgeschichte und die Evolution zu wissen glaubt. Von da an verbringt Mary ihre Tage an den steilen Klippen. Sie ist ständig in Gefahr, von herabbröckelnden Felsen erschlagen zu werden, und der sture Sandstein gibt mal mehr, mal weniger Zeugen der Urzeit frei. Ihr Bruder hat in der Zwischenzeit eine Lehre begonnen, doch findet Mary länger nichts, muss ihre Familie trotzdem hungern.

Ihre Armut rührt einen wohlhabenden Gönner und Fossiliensammler, der beschließt, seine eigene Sammlung zu versteigern und das Geld Marys Familie zu spenden. Die Käufer reisen von weither an, und die Annings lernen mehrere Paläontologen kennen. Sie sind beeindruckt von Mary, die, obwohl sie kaum zur Schule ging, großes naturwissenschaftliches Talent aufweist und ihre Funde korrekt zuordnen, beschreiben und erhalten kann. Am Ende kommen 400 Pfund zusammen, die ärgste Not der Familie ist damit gemildert.

Die verkannte Pionierin

Mit Anfang Zwanzig entdeckt Mary dann die Überreste eines Plesiosauriers, eines mächtigen Meereslebewesens. Es ist das erste Mal, dass ein Saurier dieser Art gefunden wird. Mary verbringt beinahe ein Jahrzehnt damit, das meterlange Skelett sorgfältig freizulegen, und macht nebenher weitere aufsehenerregende Entdeckungen. Sie spart genug Geld, um sich einen Laden mit einem großen Schaufenster kaufen zu können, in dem sie ihre Fundstücke ausstellt. Adelige, Geologen und Paläontologen besuchen „Anning’s Fossil Depot“, kaufen Fossilien und holen ihren Rat ein.

Das frustriert Mary mitunter – sie kennt sich mit Fossilien besser aus als viele der Männer, die ihre Funde aufkaufen und danach wissenschaftlich beschreiben, als hätten sie sie entdeckt. Obwohl sie sie wesentlich voranbringt, bleibt Mary als arme Frau ohne höhere Bildung von der jungen Disziplin der Paläontologie ausgeschlossen. Erst spät bezahlt ihr die British Science Association als Anerkennung eine kleine jährliche Pension. Im Frühling 1947 verstirbt Mary Annings, das Glückskind, die verkannte Pionierin der Paläontologie und Entdeckerin der Urgeschichte, mit nur 47 Jahren an Brustkrebs. Nach ihr sind ein halbes Dutzend ausgestorbene Arten benannt.

Ricarda OpisRicarda Opis

wurde 1996 in Graz geboren und studierte ebendort Journalismus und Public Relations (PR). Sie erzählt am liebsten die Geschichten von Frauen und Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Für diese Serie verbindet sie ihre beiden größten Leidenschaften, indem sie die Geschichten großer Frauen nicht nur erzählt, sondern auch bebildert. Wenn sie nicht gerade schreibt oder zeichnet, begeistert sie sich für alles, was sonst noch kreativ ist, und die Geschichte, Kulturen und Politik des Nahen Ostens.

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  • Veröffentlicht: 30.08.2021
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