Eine junge Frau ringt um Normalität und freut sich über Tage, an denen sie nichts auszusetzen hat
Matura geschafft, eine unauffällige Kindheit und Pubertät „geboten“ habend: Die Ich-Erzählerin nimmt sich vor, ein paar Kilo abzunehmen und bewegt sich danach auf einen Abgrund zu. Zwänge und gefährliches Untergewicht bestimmen ihren Alltag und das Leben ihrer Familie: Fassaden beginnen zu bröckeln.
Die Mutter ist tüchtig, sie bügelt, sie kocht und sie hat ein Auge auf ihre Kinder. Als die Tochter, die hier als Ich-Erzählerin den LeserInnen mehr verrät, als die Mutter je zu entschlüsseln glaubt, innerhalb von neun Monaten vierzig Kilo abnimmt, gerät das Leben der dänischen Familie aus den Fugen. Es lief alles gut, bevor die junge Frau in den Aufnahmeprotokollen der Klinik als „Pat. geführt wird, die nach eigenen Angaben eine glückliche Kindheit hatte und deren Essstörung präzise auf den 24. 08. 92 im Zusammenhang mit der Matura datiert werden kann.
Die Kindheit folgt klaren Regeln, an ihrem freien Tag macht die Mutter Milchbrötchen, sie strengt sich an, gut für ihre Familie zu sorgen. Hier wird viel geputzt, gebügelt und wohl weniger geredet. Aber der Roman will keine Schuldigen suchen, sondern mitteilen, wie es einer jungen Frau ergeht, die auf einmal kein Gefühl mehr in ihren Fingerspitzen hat. Ja, sie trickst ihre Pfleger aus, trinkt sehr viel Wasser vor dem Wiegen und will einfach ihre Ruhe haben. Nichts mehr sagen, nichts mehr erklären müssen. Kindheitserinnerungen werden wieder wach, auch daran, wie fest die Mutter die Zähne zusammenbeißen kann:
„Sie schenkt mir einen Puppenwagen aus Holz, der ist rot mit weißen Blumen auf dem Verdeck. Ich lege mich in ihn hinein und weine so lange, bis sie sich schließlich gezwungen sieht, ihn auf den Dachboden zu bringen, um das Weinen zu stoppen. Das mit dem Trösten ist eine schwierige Disziplin.“
Als die Ich-Erzählerin wieder Kraft genug hat, um sich allein zu versorgen, datet sie einige Kerle, einer verspricht ihr, mit ihr auf ein Hausboot zu ziehen. Das hat er auch schon anderen Frauen versprochen, blöd nur, dass er seinen Computer so offen ließ und zudem auf der Datingplattform eingeloggt blieb. Der Weg zurück führt nicht in jene Normalität, die man sich so vorstellt mit aufstehen, Zähne putzen, Haare waschen, aber die Ich-Erzählerin findet ihren Weg, sie nimmt einen Stein in die Hand und schließt die Augen.
„Dann wünsche ich mir, dass der Stein ein Wunschstein ist. Dann wünsche ich mir, dass meine Hand die eines anderen ist und dass ich der Stein bin. Dann wünsche ich mir, dass der Stein die Augen öffnet und dass er keine Angst bekommt.“
Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Roman nicht lesen
Innere Monologe mit großer Lebens- und Zerstörungskraft, Gefühle einer Heranwachsenden, Magersucht/Bulimie/Selbsthass, Isolation, Gespräche und Gedanken über das passende Leben, Frauenleben, Bekanntschaften und Hausboote, Lügen und verzerrte Wirklichkeiten, wunderschöne Sätze.
Die Autorin Louise Juhl Dalsgaard
1973 geboren, ausgebildete Bibliothekarin, schreibt Kurzprosa und Lyrik, unterrichtet kreatives Schreiben. „Genug“ erschien 2017 in Dänemark.
Der Übersetzer Gerd Weinreich
studierte Psychologie, Germanistik und Pädagogik, übersetzt nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Dänemark aus dem Dänischen und Norwegischen.
Louise Juhl Dalsgaard:
Genug.
Aus dem Dänischen von Gerd Weinreich.
Wien: Picus Verlag 2021.
191 Seiten.
Christina Repolust
Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at
Mehr Lesestoff von Christina Repolust erscheint regelmässig in der „Welt der Frauen”, Rubrik Staunen & Genießen. Hier können Sie ein kostenloses Testabo bestellen.